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nicht alle lernen, wie ohne eine städtische Wasserleitung Reinlichkeit
in allen Wohnungen nicht zu erzielen ist, wie ohne ein städtisches
Schlachthaus der Konsum gesunden Fleisches nicht gewährleistet ist,
so ist auch ohne öffentliche Lesestätten die Erhaltung und Weiter—
entwicklung des elementaren Wissens nicht gesichert.
Die große Aufgabe, den breiten Schichten der Bevölkerung die
Schätze unserer volkstümlichen Literatur zugänglich zu machen, kann
nur durch Errichtung von Volksbibliotheken gelöst werden.
Die Volksbibliothek ist das Seitenstück der allgemeinen, unent—
geltlichen, jedermann zugänglichen Volksschule, oder wenn man will,
deren Fortsetzung. Die Volksschule macht dem Kinde den Zugang
zu den geistigen Schätzen der Nation frei, die Volksbibliothek bie—
tet sie dar. Die Volksschule bildet Geist und Herz des Kindes, um
es aufnahmefähig zu machen, die Volksbibliothek stillt das geweckte
Verlangen; die Volksschule zeigt aus dem Literaturschatz der Nation
die kleinen, glänzenden Perlen und auch Bruchstücke der großen
Goldbarren vor, lehrt diese liebevoll betrachten und bringt sie un—
verlierbar zur Aneignung, die Volksbibliothek bietet alles, was die
Volksliteratur hat, dem Leser zum vollen und uneingeschränkten
Genuß dar. Volksschule und Volksbibliothek sind also unlösbar mit—
einander verkettet. Die letztere ist ohne die erstere nicht denkbar.
Zu Goethes und Schillers Zeit, als nur ein kleiner Teil des deut—
schen Volkes, die ästhetischen Zirkel und die ziemlich kleinen Kreise
der gebildeten Gesellschaft, aus der Literatur der Nation Beleh—
rung, Erholung und Genuß schöpften, waren Volksbibliotheken in
unserem Sinne nicht denkbar. Sie sind auch tatsächlich in allen
Staaten erst aufgetreten, nachdem die Volksschule lange Jahrzehnte
gewirkt hatte. In Deutschland liegt gar zwischen dem Anfang der
Volksschulen und dem der Volksbibliotheken ein volles Jahrhundert.
Für ein Volk, das nicht liest oder überhaupt lesen kann, haben Biblio—
theken nicht mehr Wert als für den Blinden eine Gemäldegalerie.
Heute liest aber, wie bereits ausgeführt, nahezu das ganze deutsche
Volk, oder vielmehr, es würde lesen, wenn es überall Gelegenheit
dazu hätte und die Arbeitsverhältnisse allgemein derart wären, daß
nach der Berufsarbeit noch Zeit und Kraft zur Befriedigung gei—
stiger Bedürfnisse übrigbliebe.
Ganz besonders wichtig sind Volksbibliotheken auf dem platten
Lande, wo die sonstigen Bildungsmittel beschränkt sind. Auf dem
Lande besteht auch noch das innige Familienleben der guten alten
Zeit. Der Sommer läßt allerdings wenig Zeit, sich um den Fa—
milientisch zu sammeln, der Winter aber um so mehr. Das Buch
wird, von einem gutgeschulten Kinde vorgelesen, wirklich der Mit—
telpunkt der Familiengemeinschaft, und oft finden sich noch die Nach—