Full text: Deutsches Lesebuch für Handelsschulen und verwandte Anstalten

u8 29. Ein Rückblick auf das vorige Jahrhundert. 
Da fuhr ein Automobil vor, dem ein schlankes, anmutiges, 
junges Mädchen entstieg. 
„Guten Tag, liebe Reklame“, begrüßte das Jahrhundert die 
neu Angekommene, „mich freut es, daß du dich auch bei mir sehen 
läßt. Wie geht es dir denn?“ 
„Gut, sehr gut“, erwiderte die Reklame und zündete sich eine 
Zigarette an, „je länger ich lebe, desto jünger werde ich.“ Sie wiegte 
sich in den Hüften: „Hast du mein neues Kleid schon bewundert? 
Ohne mich können sie alle nicht mehr leben. Das habe ich mir bei 
meiner Geburt auch nicht träumen lassen, daß ich noch einmal eine 
so große Rolle in der Welt spielen würde. Nun, mir kann es nur 
recht sein — ich verdiene ein schweres Stück Geld.“ 
„Sei nur sparsam“, mahnte das Jahrhundert, „und gib nur 
nicht gleich alles wieder aus. Denk' daran, daß auch schlechte Zeiten 
kommen können, hast du schon ein Sparkassenbuch?“ 
Lachend wandte sich die Reklame ab, um der Nähmaschine Platz 
zu machen — die sah alt und abgenutzt aus, man merkte es ihr an, 
daß sie viel arbeiten mußte, um durch die Welt zu kommen. 
Zärtlich strich das Jahrhundert ihr über die Räder: „Sei nicht 
verzagt“, sagte es, „denke nicht nur an die viele Arbeit, die du hast, 
denke auch an den großen Segen, der du für viele Arme bist.“ 
In diesem Augenblick klingelte der Fernsprecher: „Sei nicht böse, 
wenn ich nicht selbst kommen kann“, bat er, „aber während ich sonst 
immer abends um zehn Uhr frei habe, scheint es, als wenn ich heute 
gar nicht fertig werden soll. Ich weiß nicht, was die Menschen sich 
heute alles zu sagen haben — Herr Gott, da klingelt schon wieder einer 
nach mir, es ist wirklich zum Davonlaufen — gute Nacht. Schluß.“ 
Mit lautem Geklingel nahte ein elektrischer Straßenbahnwa— 
gen: „Ich habe dir auch etwas mitgebracht“, sagte er zum Jahrhun— 
dert, „lauter Ansichtspostkarten mit vielen herzlichen Grüßen — 
die Postboten konnten die große Menge nicht befördern, da nahm 
ich sie ihnen ab.“ 
„Du bist ein guter Junge“, lobte das Jahrhundert, „wenn du 
nur nicht so wild wärst und nur nicht so schnell dahinstürmtest — 
paß auf, du wirst noch viel mit der Polizei zu tun bekommen, wenn 
du dich nicht änderst. Erst kürzlich hast du wieder einen Menschen 
überrannt.“ 
„Warum gehen sie mir nicht aus dem Wege“, sagte geringschätzig 
der elektrische Wagen, „es ist ihre eigene Schuld.“ 
Das Jahrhundert legte sein Gesicht in ernste Falten und dachte 
anscheinend über eine Antwort nach, da erklang plötzlich dicht vor ihm 
ein lautes „knipps, knipps“, und erschrocken fuhr es zusammen.
	        
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