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Die obersten Reichsgewalten im Deutschen Reich.
mit keinem äußeren Kennzeichen versehen sein dürfen. Wollte ein Wähler
erst im Wahllokal den Wahlzettel beschreiben oder einen ihm draußen
in die Hand gesteckten Zettel umschreiben, so würde ihn der Wahlvorsteher
ersuchen müssen, hinauszugehen und außerhalb des Wahllokals zu schreiben.
Die Wahl ist zwar geheim, aber doch insofern öffentlich, als es
jedem Wahlberechtigten gestattet ist, soweit es die Ordnung des Wahl—
geschäftes erlaubt, im Wahllokal zugegen zu sein. Wir sehen denn auch
an Vebentischen Vertrauensmänner der politischen Parteien sitzen, in
ihren Wahllisten streichen und notieren und, je mehr die Wahl zum
Schlusse neigt, ihre Boten entsenden, um die säumigen Wähler herbei—
zuholen. Diskussionen, Ansprachen und Beschlußfassungen sind im Wahl-
lokal ausdrücklich verboten.
Um 6 Uhr abends erklärt der Wahlvorsteher die Wahl für ge—
schlossen. Dann nimmt der Wahlvorstand die Stimmzettel aus der Urne
und zählt die Stimmen aus. Er entscheidet sogleich nach Stimmenmehr—
heit, ob ein Zettel gültig ist oder nicht. Der Wahlvorsteher übersendet
das Wahlprotokoll dem Wahlkommissar, der von der Regierung für den
ganzen Wahlkreis bestellt ist. Der Wahlkommissar beruft 6 bis 12 Wähler
zu sich, sieht in ihrem Beisein und öffentlich edermann hat Zutritt) die
eingesandten Protokolle durch, stellt die einzelnen Wahlergebnisse zusammen,
verkündet den Ausfall der Wahl und macht ihn öffentlich bekannt.
In einem Wahlbezirk ist derjenige zum Abgeordneten gewählt, der
die absolute Mehrheit erlangt hat; d. h. mindestens die Hälfte aller gültig
abgegebenen Stimmen und noch eine mehr müssen sich auf seinen Namen
vereinigt haben. Ist die absolute Mehrheit überhaupt nicht erreicht
worden, so wird eine zweite Wahl, die sogenannte Stichwahl, vor—
genommen. Zur Stichwahl gelangen nur die beiden Bewerber, welche
bei der Hhauptwahl die meisten Stimmen erhielten. Für einen dieser
beiden müssen sich jetzt alle Wähler entscheiden, auch diejenigen, welche
anfangs für einen anderen Bewerber gestimmt haben, oder sie müssen
sich der Wahl vollständig enthalten. Der Vorgang ist bei der Stich—
wahl gerade so wie bei der ersten Wahl. Sollten die Stimmen gleich—
stehen, so entscheidet der Wahlkommissar durch das LCos.
Ist der Reichstag in Berlin zusammengetreten, so wird zunächst ein
Vorstand gewählt. Derselbe besteht aus dem Präsidenten, den beiden
Vicepräsidenten und acht Schriftführern, denen noch zwei vom Präsidenten
ernannte Schatzmeister zur Seite stehen.
Dem Reichstage werden vom Kanzler alle Gesetzesvorlagen über—
mittelt, welche vom Bundesrat ausgearbeitet worden sind und einer Beratung
durch den Reichstag bedürfen. Andererseits hat auch der Reichstag das
Recht, in Reichsangelegenheiten dem Bundesrat Gesetze vorzuschlagen.
Damit im Reichstag nicht voreilig Beschlüsse gefaßt werden, muß
über alle Vorlagen des Bundesrats, sowie über alle Gesetzesentwürfe,
die aus dem Reichstag selbst hervorgehen, dreimal beraten werden: es
finden drei Lesungen statt. Häufig wird am Schluß der ersten Lesung,
in welcher man sich nur über die Grundsätze des vorgelegten Entwurfes