Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

166 
Zeit der vordringenden Gewerbefreiheit. 
führung einer allgemeinen Gewerbesteuer, dem im folgenden Jahre 
das Gesetz über die polizeilichen Verhältnisse der Gewerbe folgte. 
Durch beide Erlasse wurde der Gedanke der Gewerbefreiheit praktisch 
verwirklicht. Fortan sollte jedem, der ein befriedigendes polizeiliches 
Leumundszeugnis aufweisen konnte, die Lösung eines Gewerbescheines 
und damit die Eröffnung eines selbständigen Gewerbebetriebes frei— 
stehen, wenn er sich der neueingeführten Gewerbesteuer unterzog. In—⸗ 
nungen sollten nur noch als freie Genossenschaften ohne Zwangs— 
und Bannrechte gestattet sein. Der Innungszwang wurde beseitigt. 
Für gewisse Gewerbe behielt sich der Staat das Recht der Betriebs— 
beschränkung aus polizeilichen Rücksichten vor, desgleichen die Forderung 
des Nachweises gewisser Eigenschaften, die im Interesse der öffent— 
lichen Sicherheit und des Staatswohles unerläßlich erschienen. Stadt 
und Land wurden in Bezug auf die Berechtigung zum Gewerbe— 
betriebe rechtlich gleichgestellt. 
3. Das Beispiel Preußens fand nicht sofort allgemeine Nach— 
ahmung. Während die preußische Regierung die Gebietsteile, welche 
seither unter französischer Verwaltung gestanden hatten und durch 
den Wiener Kongreß preußisch wurden, im Genusse der Gewerbe— 
freiheit beließ, stellten die von Napoleon vertriebenen deutschen Lan— 
desfürsten beim Wiederantritt ihrer Regierung die Zunftverfassung 
(meist in milderer Form) wieder her. In den übrigen deutschen 
Staaten blieben die Zunfteinrichtungen, durch das staatliche Kon— 
zessionsrecht bald mehr, bald weniger geändert, zum Teil bis kurz 
vor der Erxrichtung des neuen Deutschen Reiches bestehen (Nassau 
1860, Bremen und Oldenburg 1861, Sachsen, Württemberg, Baden 
1862, Weimar, Meiningen, Waldeck, Coburg-Gotha, Altenburg 1868, 
Frankfurt a. M. und Schwarzburg-Rudolstadt 1864, Hamburg 1865). 
Daß die Gewerbefreiheit all das Gute gebracht habe, was man von 
ihr erwartet hatte, daß sie alle die Übelstände beseitigt habe, deren 
Tilgung man ihr zutraute, wird im Ernste niemand behaupten. Auch 
wer die Unmöglichkeit einer Umkehr zu den gewerblichen Zuständen 
früherer Tage klar erkennt, wird nicht leugnen können, daß die heutige 
Wirtschaftsform, die auf dem Grundsatze der Gewerbefreiheit ruht, 
„die höchste Entfaltung der Einzelkraft bis hart an die Grenze der 
Sittlichkeit gesetzlih und über diese Grenze hinaus thatsächlich er— 
möglicht“. Die Herrschaft der freien Konkurrenz hat der Macht des 
Kapitals über die Arbeit ein erdrückendes Übergewicht verschafft und 
in sozialer Hinsicht zersetzend gewirkt. 
Dr. Otto, Das deutsche Handwerk.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.