Full text: [Teil 1 = 2. Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 1 = 2. Schuljahr, [Schülerband])

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ist, daß sie niemals lügen. Wenn sich einer untersteht, die 
Wahrheit nicht zu sagen, so halten sie ihn für einen schlechten 
Menschen und wollen gar nichts mehr mit ihm zu schaffen 
haben. Deshalb wohnen die Lügner ganz allein vor der 
Stadt, und kein Mensch spricht mit ihnen. 
114. Der kluge Landmann und sein Pferd. 
Von Christoph v. S c h m i d. 
Einem Bauersmanne wurde zur Nacht sein schönstes 
Pferd aus dem Stalle gestohlen. Er reiste fünfzehn 
Stunden weit auf einen Pferdemarkt, ein anderes zu 
kaufen. Aber sieh — unter den feilen Pferden auf dem 
Markte erblickte er auch sein Pferd. Er ergriff es so¬ 
gleich bei dem Zügel und schrie laut: „Der Gaul ist mein! 
Vor drei Tagen wurde er mir gestohlen!" 
Der Mann, der das Pferd feil hatte, sagte sehr höf¬ 
lich: „Ihr seid unrecht daran, lieber Freund! Ich habe 
das Roß schon über ein Jahr. Es ist nicht Euer Roß, 
es sieht ihm nur ähnlich.“ Der Bauer hielt dem Pferde 
geschwind mit beiden Händen die Augen zu und rief: 
„Nun, wenn Ihr den Gaul schon so lange habt, so sagt, 
auf welchem Auge ist er blind?“ Der Mann, der das 
Pferd wirklich gestohlen, aber noch nicht so genau be¬ 
trachtet hatte, erschrak. Weil er indes doch etwas 
sagen mußte, so sagte er aufs Geratewohl: „Auf dem 
linken Auge.“ — „Ihr habt es nicht getroffen,“ sagte der 
Bauer; „auf dem linken Auge ist das Tier nicht blind.“ 
— „Ach,“ rief jetzt der Mann, „ich habe mich nur ver¬ 
sprochen ; auf dem rechten Auge ist es blind!“ 
Nun deckte der Bauer die Augen des Pferdes wieder 
auf und rief: „Jetzt ist es klar, daß du ein Dieb und 
Lügner bist. Da, seht alle her! der Gaul ist gar nicht 
blind. Ich fragte nur so, um den Diebstahl an den Tag
	        
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