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228. Die Schrippenkirche. 
Unermeßlicher Reichtum und bodenlos tiefe, traurige Armut, er— 
schreckende Vergnügungssucht und bejammernswertes Elend berühren 
sich nirgendwo mehr als in der Weltstadt Berlin. Eine gähnende Kluft 
tut sich auf, die unüberbrückbar scheint. Und dennoch sehen wir, daß 
gerade da, wo soziale Not, Verbrechertum und Laster sich in erschreckend— 
stem Maße bemerkbar machen, immer auch weite Kreise vermögender 
und edeldenkender Wenschen für den leidenden Mitbruder in bewun— 
derungswürdiger Weise zu sorgen bestrebt sind. 
So ist es auch in Berlin. 
Wer will sie zählen alle die Tausende von stillen Wohltaten. Die 
kirchliche Fharitas und wohldenkende Privatkreise wetteifern miteinander 
in edler Fürsorge für die Armen, auch für jene, die kein Heim kennen, 
ja kaum ihren Hunger zu stillen wissen. Für diese hat man u. a. eine 
schöne Einrichtung geschaffen, die Schrippenkirche.“ 
in kalter Dembermorgen! Fröstelnd trete ich auf die noch stille 
Straße, in der ein dicker, feuchter Nebel lagert. Am Oranienburger 
Tore basteige ich den Omnibus, der mich für einen „Sechser“ in eine der 
im höchsten Norden Berlins gelegenen Straße führt. Dort liegt die zur 
Erinnerung an die gnädige Befreiung Kaiser Wilhelms J. aus Mörder— 
hand errichtete Dankeskirche und gleich dahinter ein einfaches, unschein— 
bares Haus. Ich trete ein und werde nach Vorzeigung meiner Aus— 
weiskarte in einen großen Saal geführt. Da bietet sich nun ein ganz 
eigentümlicher Anblick dar. In langen Reihen sind Tische, nicht breiter 
als zwei Spannen, und an ihnen entlang hölzerne Bänke aufgestellt, die 
dicht mit Menschen besetzt sind; kein Plätzchen ist leer. Und was für Men— 
schen! Halbwüchsige Burschen von 15 und 16 Jahren und kahlköpfige 
Alte; hier ein heruntergekommener Student mit schmutziger Kravatte 
und dort ein Bettler in zerlumpten Kleidern. Ich durchschreite die langen 
Reihen und sehe von Hunger abgezehrte und von Alkohol rot auf— 
gedunsene Gesichter, solche, denen seit Wochen kein warmes Nachtlager, 
kein kräftigendes Mittagessen zu teil geworden, denen das Nötigste, das 
Allernötigste fehlt. Wir befinden uns im „dunkelsten Berlin“. Bedürf— 
tigere gibt es nicht, ärmer ist niemand in der großen, reichen Stadt als 
ie: Obdachlose, ohne Heimat, ohne Arbeit, fremd untereinander, fremd 
auch uns. Niemand fragt nach Stand und Namen, nach Herkunft und 
Beruf. Einsam und still trägt jeder sein Elend mit oder ohne Schuld. 
Wer will es untersuchen? Auf keinem Gesicht ruht ein Lächeln, kein 
munteres Gespräch kommt auf; stumm, ernst, finster schauen sie darein. 
Und der eine dort, — er hat gewiß einst bessere Tage gesehen — er 
duckt sich scheu hinter der breiten Schulter seines Nebenmannes, als ob 
er sich schäme. 
Mittlerweile ist es 714 Uhr geworden. Da tritt der Leiter der 
Versammlung vor und spricht, nachdem sich alles erhoben hat und eine 
tiefe, andächtige Stille eingetreten ist: „Meine lieben Freunde! Lasset
	        
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