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Im Frühjahr 1812 wurde auch der Kreis Johannisburg von den ver—
haßten Franzosen überschwemmt. Mächtige Kolonnen wälzten sich unauf—
hörlich gegen die russische Grenze. Das Jahr zuvor war eine große Miß—
ernte gewesen. Überall herrschte Mangel und Not. Und nun noch die Fran—
zosen, die rücksichtslos Geld und Nahrungsmittel erpreßten und jeden Bissen
den armen Bauern vom Munde fortrissen; der Jammer war unbeschreiblich.
Besonders traurig sah es in Dietrichswalde aus. Durch Märsche über die
lange Heide ausgehungert, fielen die Franzosen wie Raben über die geringen
Vorräte der Dietrichswalder her. Sie wunderten sich nur, daß sie in den
Bauernställen des Dörfchens weder Pferd, noch Kuh, noch Schaf, noch
Schwein fanden. Wenn sie die Bauern danach fragten, erhielten sie überall
die Antwort: „Nie ma nic“,*) d. h. es ist nichts vorhanden. Man hatte aber
alles Vieh zusammengetrieben und in eine Schlucht zwischen Dietrichswalde
und Nieden gebracht, wo es Tag und Nacht bewacht wurde.
Ehe die Franzosen anrückten, hatte die kluge Frau Rzadkowski schleu—
nigst alle Mundvorräte in Sicherheit gebracht. Nur mit dem Mehl war's
schlimm, das ließ sie nicht in der Erde vergraben. „Ich will daraus Brot
backen, Brote lassen sich leichter verbergen als Mehl“, dachte sie und ging
schnell ans Werk. Als sie damit fertig war, entstand eine neue Verlegenheit:
„Wo jetzt mit den Broten hin? Wo sind sie am sichersten verwahrt?“
Da geht ihr plötzlich ein Licht auf: „Im Stroh der Dachfirst werden
die diebischen Franzosen sie nimmer finden!“ Gedacht, getan. Die Fran—
zosen kommen. Sie schreien: „Du pain, du pain!“ Sie suchen überall,
in den Betten, in den Kammern und im Keller und finden nichts. Sie
drohen, alles über den Haufen zu schießen, aber Frau Rzadkowski fürchtet
sich nicht und schreit ebenso laut wie die Franzosen: „Du pain, nie ma nie!“
Dieses „nie ma nie“ hatten die Franzosen schon überall in dieser Gegend
gehört und wußten, was es bedeutet. Wo nichts ist, da hat der Kaiser sein
Recht verloren. Die Söhne der grande nation mußten also bei der wackeren
Frau Rzadkowski ordentlich hungern.
Nur der eine der Hungrigen kann sich nicht zufrieden geben. Er schleicht
ums Haus und späht nach oben und unten. Da sieht er oben über dem Dach
eine große Krähenversammlung, die fortwährend nach einem Gegenstande
hackt. Die Geschichte muß er untersuchen. Er sucht sich im Stall eine Leiter,
steigt aufs Dach und findet das von den Krähen angehackte Brot. Er sucht
weiter und findet nun im Stroh Laib an Laib, ein ganzes Regiment von
Broten. Er bringt die Freudenbotschaft seinen Kameraden, welche sich den
ganzen Vorrat aneignen. Frau Rzadkowski weinte vor Schmerz. Den
verräterischen Krähen schwur sie Rache. Sie sah diese bösen Vögel,
welche von den Franzosen verscheucht waren, nach dem Walde fliegen. Da
schickte sie einen geheimen Boten zum Viehwächter in den Wald und ließ
ihm sagen, er solle alle Krähen, die er im Walde sähe, totschießen. Dieser
*) sprich: niä ma nitz.