Full text: [Theil 1, [Schülerband]] (Theil 1, [Schülerband])

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Urenkeln! Geschlechter auf Geschlechter sind entstanden und vergangen wie eine 
Blume des Feldes, aber der Alte ist im Sturme der Jahrhunderte unerschüttert 
geblieben. 
Was für Geschichten könnte manche Eiche erzählen, würde ihr die Rede 
verliehen! Die Eiche, von deren Holze der alterthümliche Schrank und der 
unverwüstliche Tisch, den du von deinen Großeltern üͤberkommen hast, gearbeitet 
wurde, sie hat vielleicht noch die alten heidnischen Sachsen, deine Stammväter, 
unter ihrem Schatten lagern sehen, ihrem tapferen Streite mt den mächtigen 
Franken zugeschaut und sich altdeutscher Große und Herrlichkeit gefreut wenn 
sie dem nervigen Arme des kriegslustigen Jünglings einen festen Zweig dar⸗ 
reichte zum Stiel für die wuchtige Streitari 
Bei unsern heidnischen Vorfahren war dieser Königsbaum dem mächtigen 
Donnergott Thor geheiligt, der im zackigen Blitz und rollenden Donner sich 
den Sterblichen offenbarte. Der heilige Eichenhain durfte nicht von Unein 
geweihten, sondern nur vom opfernden Puester betreten werden, und wo eine heilige 
Eiche stand, würde keines Menschen Hand gewagt haben, sie ihres Laubes oder 
ihrer Zweige zu berauben oder gar umzuhauen. Dieses Recht hatte allein der 
aus der Gewitterwolke zerschmetlernd niederfahrende Wetterstrahl ihres Gottes 
Die alten Deutschen, obwohl sie Heiden waren hatten doch ein nicht minder 
feines Gefühl für das Leben und Weben der unsichtbar in der Natur waltenden 
Gotteskraft als wir, ihre christlichen Nachkommen. Von gemauerten, künstlich 
erxbauten Tempeln wußten sie nichts; sie fanden die heilige Stätte für ihre 
Gottesverehrung in jenen von Menschenhänden unberührten, durch göttliche 
Allmacht erbauten Eichwäldern; dort, im geheimnisvollen Dunkel und in feiler⸗ 
licher Stille vernahmen sie das leise Wehen der Gottheit. — In dem heiligen 
Dunkel der deutschen Eichenwälder saßen einst die Priesterinnen unsrer Vater 
und lauschten dem prophetischen Rauschen der Blätter, um der harrenden Menge 
den Ausspruch der Götter zu verkünden. Hier barg man auch die geweihten 
Fahnen und holte sie mit Ehrfurcht hervor, wenn der Schlachtruf in den Gauen 
wiederhallte und die Tapfern aufrief zum Streit. Und wer dann muthig ge— 
fochten und den Sieg errungen hatte, den krönte ein Kranz von Eichenlaub, 
und diese Blätterkrone galt mehr als eine goldene Fürstenkrone. Desgleichen, 
wenn die alten Deutschen über Krieg oder Frieden berathen wollten, so ver— 
sammelten sie sich nicht zwischen den vier engen Wänden des Hauses sondern 
sie kamen zusammen in einem großeren und schöneren Saale, dessen Boden ein 
grüner Teppich von Gras und Waldblumen, und dessen Säulen die hohen 
Eichbäume waren. 
Jetzt ist dieses alte, tapfre und starke Geschlecht deutscher Männer aus 
den Wäldern geschwunden, aber noch heute wie vor einem Jahrtausend hebt 
mit kräftigem Wuchse die Eiche ihr stolzes Haupt in die Luft, und herrliche 
Eichwälder sind noch immer unsers schönen Vaterlandes schönste Zier. 
Wie ein tapfrer Krieger, der nicht von seinem Platze weicht, steht die 
Eiche da, gehalten von kräftigen Wurzeln, die eben so stark sind, als die mäch— 
tigen Aeste und Zweige. Darum mag der Sturm toben, wie er immer will, 
der Eichbaum bietet ihm trotz und rührt sich nicht. Auch seine Rinde ist 
eisenfest und so stark, daß sie den schwersten Hieben der Art lange widersteht. 
So stark und fest das Holz, so schon ist der Schmuck der großen, zierlich in 
Wellenlinien ausgezackten, glänzend grünen Blätter, die wiederum alles andre 
Laub an Ausdauer und Festigkeit übertreffen, und obschon welk geworden, doch 
den Winter hindurch bis zum Frühling ausharren, wo das neue, junge Laub 
sie verdrängt.
	        
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