Furchtsam hielt sie an der ersten Tür,
Kramt' ein Brieslein ordentlich Herfür.
Schritt zum zweiten Gaden alsodann,
Bracht' ein sattes Päckchen an den Mann.
Endlich drüben bei dem dritten Haus
Langte sie ein Telegramm heraus,
hüpfte dann und jauchzt' ein dutzendmal,
Lief mit lust'gen Sprüngen heim zu Tal.
Gab den Beutel ab im Postkontor,
Schloff zu Bett und legte sich aufs Ghr.
Ñber oben in der Ñlpennacht
Ward bei Licht die ganze Nacht gewacht.
Ñus dem hintersten der Weiler drei
Klagte Jammerruf und Wehgeschrei.
In dem mittlern war Mordió im Schwang. -
Ñus dem ersten becherte Gesang.
Maidlein mit dem Kinderangesicht!
Sag, was hast dort oben angericht't?
Zäh' man's auch den nichtigen händlein an,
Daß dir Fluch und Segen klebt daran?
Karl Spittclcr.
82. Lin Tag auf der Raiserjacht „Hohenzollern".
Tine kurze Dämmerung, und strahlend erhebt sich das Tagesgestirn
aus den grünlich schimmernden Wassern, helle Flammenstrahlen schießen
über den leise schwankenden, zitternden Kiesenspiegel, über dem sich in
azurner Bläue ein durchsichtiger Himmel spannt. Und in dieser Farben¬
pracht des erwachenden Tages, von leichten Kauchwölkchen überkräuselt,
ein majestätisches Schiff, die deutsche Kaiserjacht „hohenzolleri?, die den
Kaiser nach Korfu trägt. Und hinter ihr das Depeschenboot Sleipner und
in gleichem Kbstand der graugestrichene, kanonengespickte Begleitkreuzer.
5lcht Schläge der Schiffsglocke auf dem Begleitschiff verkünden die
vierte Morgenstunde und Wachtwechsel. Kuf der Jacht selbst herrscht
noch Totenstille. Nur das dumpfe Zittern und Stampfen der Maschinen
zeigt, daß Leben in diesem weißschimmernden Kiesenleib steckt. Der wach¬
habende Offizier geht mit leisen Schritten von einer Seite der Brücke
zur anderen, gibt mit gedämpfter Stimme seine Befehle, die lautlos
wiederholt und geräuschlos ausgeführt werden.
Jetzt erscheint der Kommandant an Deck. Die Hand an der Mütze,
meldet der Wachhabende seinem vorgesetzten die Ereignisse der Nacht. Tin
Wink mit der Hand zum Signalmeister, und vier bunte Fähnchen fliegen
zum Toppmast empor, auf den Gesolgschiffen wiederholt sich fast augen-
Neller-Stehle, Deutsches Lesebuch II. 9