Full text: [Teil 2 (4. und. Schuljahr, [Schülerband]] (Teil 2 (4. und. Schuljahr, [Schülerband])

Niobe. 
Niobe, die Königin von Theben, war auf vieles stolz. Kinphion, 
ihr Gemahl, hatte von den Musen die herrliche Leier erhalten, auf deren 
Spiet sich die Steine der thebäischen Königstmrg von selbst zusammensetzten; 
ihr Nhnherr war Tantalus, der Gast der Götter,' sie war die Gebieterin 
eines gewaltigen Neiches und selbst voll Hoheit des Geistes und von 
majestätischer Schönheit,' nichts aber von allem diesen schmeichelte ihr so 
sehr als ihre vierzehn blühenden Kinder, die zur einen Hälfte Söhne, 
zur anderen Töchter waren. 
Einst rief die Seherin mitten in den Straßen die Frauen Thebens 
zur Verehrung Latonas und ihrer Zwillingskinder, Npollons und der 
Nrtemis. auf, hieß sie die haare mit Lorbeeren bekränzen und frommes 
Gebet unter Weihrauchopfer darbringen. 5lls nun die Thebäerinnen zu¬ 
sammenströmten, kam Niobe im Schwarm eines königlichen Gefolges 
prunkend einhergerauscht. Sie ließ die Bugen voll Hoheit auf den ver¬ 
sammelten ruhen und rief: „Seid ihr nicht wahnsinnig, Götter zu ehren, 
von denen man euch fabelt, während vom Himmel begünstigtere Wesen 
mitten unter euch weilen? Wenn ihr der Latona Bltäre errichtet, warum 
bleibt mein göttlicher Name ohne Weihrauch? Waget es noch ferner, 
mir Latona vorzuziehen, die Mutter zweier Kinder, die Armselige! Wer 
leugnet, daß ich glücklich bin, wer zweifelt, daß ich glücklich bleibe? Darum 
fort mit den Opfern, heraus aus den haaren mit dem Lorbeer! Zer¬ 
streuet euch in eure Häuser und laßt euch nicht wieder über so törichtem 
Beginnen treffen!" 
Erschrocken nahmen die Frauen die Kränze vom Haupt und schlichen 
nach Hause, mit stillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend. 
Bus dem höchsten Gipfel ihrer heiligen Insel Delos stand mit ihren 
Zwillingen Latona und schaute mit ihrem Götterauge, was in dem fernen 
Theben vorging. „Seht, Kinder, ich, eure Mutter, werde von einer 
frechen Sterblichen geschmäht, ich werde von den alten heiligen Bltären 
hinweggestoßen, wenn ihr mir nicht beisteht, meine Kinder!" Beide Ge¬ 
schwister hüllten sich in eine Wolkendecke, und mit einem raschen Schwung 
durch die Lüfte hatten sie Thebens Stadt und Burg erreicht. 
hier breitete sich vor den Mauern ein geräumiges Brachfeld aus, 
das den Wettläufen und Übungen zu Noß und Wagen gewidmet war. Da 
belustigten sich eben die sieben Söhne Bmphions: die einen bestiegen 
mutige Nosse, die anderen erfreuten sich des Ningspieles. Der älteste trieb 
eben sein Tier sicher im Kreise um, als er plötzlich: „Wehe mir!" aus¬ 
rief, den Zaum aus den erschlaffenden Händen fahren ließ und, einen 
Pfeil mitten ins herz geheftet, langsam am Bug des Nosses heruntersank. 
Sein Bruder, der ihm zunächst sich tummelte, hatte das Gerassel des 
Köchers in den Lüften gehört und floh mit verhängtem Zügel. Dennoch 
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