Niobe.
Niobe, die Königin von Theben, war auf vieles stolz. Kinphion,
ihr Gemahl, hatte von den Musen die herrliche Leier erhalten, auf deren
Spiet sich die Steine der thebäischen Königstmrg von selbst zusammensetzten;
ihr Nhnherr war Tantalus, der Gast der Götter,' sie war die Gebieterin
eines gewaltigen Neiches und selbst voll Hoheit des Geistes und von
majestätischer Schönheit,' nichts aber von allem diesen schmeichelte ihr so
sehr als ihre vierzehn blühenden Kinder, die zur einen Hälfte Söhne,
zur anderen Töchter waren.
Einst rief die Seherin mitten in den Straßen die Frauen Thebens
zur Verehrung Latonas und ihrer Zwillingskinder, Npollons und der
Nrtemis. auf, hieß sie die haare mit Lorbeeren bekränzen und frommes
Gebet unter Weihrauchopfer darbringen. 5lls nun die Thebäerinnen zu¬
sammenströmten, kam Niobe im Schwarm eines königlichen Gefolges
prunkend einhergerauscht. Sie ließ die Bugen voll Hoheit auf den ver¬
sammelten ruhen und rief: „Seid ihr nicht wahnsinnig, Götter zu ehren,
von denen man euch fabelt, während vom Himmel begünstigtere Wesen
mitten unter euch weilen? Wenn ihr der Latona Bltäre errichtet, warum
bleibt mein göttlicher Name ohne Weihrauch? Waget es noch ferner,
mir Latona vorzuziehen, die Mutter zweier Kinder, die Armselige! Wer
leugnet, daß ich glücklich bin, wer zweifelt, daß ich glücklich bleibe? Darum
fort mit den Opfern, heraus aus den haaren mit dem Lorbeer! Zer¬
streuet euch in eure Häuser und laßt euch nicht wieder über so törichtem
Beginnen treffen!"
Erschrocken nahmen die Frauen die Kränze vom Haupt und schlichen
nach Hause, mit stillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend.
Bus dem höchsten Gipfel ihrer heiligen Insel Delos stand mit ihren
Zwillingen Latona und schaute mit ihrem Götterauge, was in dem fernen
Theben vorging. „Seht, Kinder, ich, eure Mutter, werde von einer
frechen Sterblichen geschmäht, ich werde von den alten heiligen Bltären
hinweggestoßen, wenn ihr mir nicht beisteht, meine Kinder!" Beide Ge¬
schwister hüllten sich in eine Wolkendecke, und mit einem raschen Schwung
durch die Lüfte hatten sie Thebens Stadt und Burg erreicht.
hier breitete sich vor den Mauern ein geräumiges Brachfeld aus,
das den Wettläufen und Übungen zu Noß und Wagen gewidmet war. Da
belustigten sich eben die sieben Söhne Bmphions: die einen bestiegen
mutige Nosse, die anderen erfreuten sich des Ningspieles. Der älteste trieb
eben sein Tier sicher im Kreise um, als er plötzlich: „Wehe mir!" aus¬
rief, den Zaum aus den erschlaffenden Händen fahren ließ und, einen
Pfeil mitten ins herz geheftet, langsam am Bug des Nosses heruntersank.
Sein Bruder, der ihm zunächst sich tummelte, hatte das Gerassel des
Köchers in den Lüften gehört und floh mit verhängtem Zügel. Dennoch
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