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38. Wie ich einmal Glucke spielte.
Scfyon in der Schule nannten mich meine INitschülerinnen
scherzweise „Hühnermutter." Dies machte mich jedoch durchaus
nicht böse; vielmehr suchte ich, diesen Beinamen nach Möglichkeit
zu verdienen. Die Hühner waren meiner besondern Obhut an¬
vertraut, und noch heute bin ich eine eifrige Hühnerzüchterin.
So setzte ich vor ein paar Jahren eine Glucke auf fünfzehn
Gier. Cs war ein großes, kräftiges schwarzes Tier, das sein
Brutgeschast sehr gilt erledigte, fünfzehn Hühnchen schlüpften
aus, zwölf weiße, zwei schwarze und ein dunkelbraunes. Ich
freute mich sehr über meine wohlgelungene Zucht und trug die
Glucke samt Hühnchen in den verschlag, der zur Aufnahme
der kleinen bestimmt war. vergnügt sah ich den Tierchen
zu. wer beschreibt aber mein Staunen und Entsetzen, als plötzlich
die Glucke sich wütend auf das braune Hühnchen stürzt und an¬
sängt, es zu verfolgen und zu beißen? Ich mußte das arme Tier¬
chen schleunigst in Sicherheit bringen; sonst hätte sie es tot gebissen.
Ich versuchte noch mehrmals, es ihr unterzugeben, aber vergeblich;
sie fuhr fort, e^zu hacken und zu zausen, was war zu machen?
Ich entschloß mich, das Hühnchen selbst aufzuziehen, nahm es
mit ins Haus und setzte es neben dem Nähtisch in ein mit Watte
gefülltes Körbchen. Das kleine verstoßne Ding schien sich auch
ganz wohl zu fühlen und schlief ruhig ein. Als ich mich jedoch
bald erhob und fortging, tauchte auch sofort sein Nöpschen aus
der lvatte auf, und ein klägliches Gepiepst erhob sich. Dies machte
es öfter, bis ich merkte, daß es nicht allein sein wollte; sobald
jemand bei ihm war, schwieg es still und schlief ruhig weiter.
Bald sah ich, daß auch die beiden schwarzen Mchlein von
ihrer Rabenmutter nicht geduldet wurden, und ich hatte nun drei
Pfleglinge. Sie kamen in ein Kästchen mit einer besonders zu¬
rechtgemachten Ecke zum Unterschlüpfen und erhielten ihr Lutter
wie die andern; nachts that ich sie in das Mrbchen mit
lvatte und band ein dünnes Läppchen darüber, damit sie nicht
herausfallen konnten. Sie gediehen prächtig; nur hatten wir mit
ihnen stets Not, weil sie durchaus nicht allein bleiben wollten.
In der Mche ruhten sie nur, solange jemand da war; ließ man
Lesebuch für Höhere Mädchenschule», -t. Schuljahr. 4