Full text: Lesebuch für gewerbliche Fortbildungsschulen

8 84. Zünfte und Innungen im Mittelalter. 
aber gaben Veranlassung zu gerechten Beschwerden; ihr Regiment wurde 
als hart und parteisüchtig verklagt und ihre V erwendung der Stadtgelder 
als höchst gewissenlos. Sie wählten aus ihrem Leinen Kreise den Rat, 
oder der Rat, dessen NMitglieder jahrlich wenigstens teilweise wechselten, 
bestimmte selbst die Nachfolger. Gegen diese alten Schaden, vwelehe 
ũberall der Herrschaft regierender Familien anhängen, vereinigten sich 
die Innungen samtlich oder in der Mehrzahbl zu Klagen, endlich zu offenem 
Aufstand. Kaum eine Stadt auf deutschem Boden, in welcher nicht 
Bũrgerkrieg die Strassen blutig farbte und die Ratsstühble umwarf ; in den 
meisten Städten erzwangen sich die Handwerksmeister die Teilnabme am 
Rat. Oft wurden sie wieder verdrängt, aber aus diesen inneren Kämpfen 
exwuchs eine gemischte Verfassung, welehe den Innungsgenossen eine LVeil- 
nahme am Schöppengericht und der Verwaltung sicherte, den Geschlechtern 
aber doch den Hauptteil der Geschäfte überliels. 
Jeder ãltere Handwerksmann wusste um 1300, dass sein Handwerk 
seit Menschengedenken grosfse Veränderungen erfahren hatte. Überall 
grössere Kunst und Reinlichkeit des Lebens; neue Handwerke waren ent— 
standen; unaufhörlich änderte die MNode. Aus dem Handwerk der Eisen- 
sehmiede waren wohl zwölf jüngere gekommen, vom Sarwürker, der die 
Cettenpanzer verfertigte, bis zum Nestel Heftel-macher. Die Riemer, 
dattler und Beutler hatten sich getrennt, und die Beutler verfertigten 
Handschuhe und zierliche Ledertaschen für die Frauen und parfumierten 
sie mit Ambra; die Glaser, sonst geringe Werkleute, waren hoch herauf- 
gekommen; sie verstanden, durchsichtiges Glas in den schönsten Farben 
zu verarbeiten, sie setzten diese Farben Lunstvoll in Blei zu Bildern zu— 
sammen, malten Gesichter und Haare, schattierten die Gewänder und 
schliffen helle Stellen aus. Die sSchneider, eine sehr viehtige und an— 
sehnliche Innung, waren zumeist dureb die Mode geplagt; schon damals 
wvar Rlage, dass ein Meister, der im vorigen Jahre noch zur Zufriedenheit 
gearbeitet hatte, jetzt gar nichts mehr galt, weil er die Kunst der neu— 
modischen gerissenen und gesehlitzten Kleider nicht verstand. Sogar die 
dcehuster waren sehr kunstreien geworden; ihr Handwerk war schwierig; 
zie hatten Sehnabelschube zu nähen von buntem Leder, deren Spitzen 
sich zuerst etwas in die Höhe erhboben und dann wie der Kamm eines 
LTruthahnes hinabhingen. Es war Rittertracut; der Rat wollte für die 
Bürger nur geringe Lange der Schnäbel zulassen, aber das war vergeblich, 
die Zierlichkeit war nieht aufzuhalten. Aueh die Schuster hatten sieh 
geteilt: wer moderne Schuharbeit von buntem Leder verfertigte, nannte 
sich 2z. B. in Brèmen „Korduaner“; die andern hiessen sehwarze Schub— 
macher, sie hatten vieder die Altbülser von sieh ausgeschlossen, die als 
kleine Leute in besonderen Stunden bei ihrer Bastelarbeit salsen. 
Dass die Handwerker sieh stolz in ihrer Kunst fühlten, sah man 
sehon auf der Stralse an den Häusern, wo ihre Innungsstuben vwaren. 
Denn sie hatten, wvie die Geschlechter. ein schönes Wappen darangemalt. 
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