Full text: Lehr- und Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

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Staat aber, der keine oder lauter ungeschickte Beamte hat, muß zu Grunde 
gehen, und dem Volksstaate würde es nicht anders ergehen. 
Angenommen aber, und bei der ersten Errichtung eines Volksstaates 
könnte es angenommen werden, die genügende Anzahl tüchtiger Beamten 
hätte sich gefunden, was würde nun geschehen? Ein Beamter muß Aufsicht 
üben. Wer Aufsicht üben will, muß Ansehen haben. Schon der unterste 
Gerichtsdiener, wenn er sein Amt verwalten soll, muß ein gewisses Ansehen 
haben, Strolche müssen ihn fürchten, ehrliche Leute ihm vertrauen. Ist das 
bei einem Gerichtsdiener der Fall, wieviel mehr bei einem Minister, der 
doch die Angelegenheiten des ganzen Landes zu übersehen hat. So wird 
ganz von selbst auch in einem Volksstaate der Minister in einem höheren 
Ansehen stehen als der Polizeidiener. Damit sind Rang und Stand wieder 
da. Der Sozialist darf aber Rang und Stand nicht leiden. Ein Minister 
oder gar ein Präsident, der im Ansehen steht, wird von seinem Posten ver— 
drängt. Es ist möglich, daß er sich solches gefallen läßt, möglich aber auch, 
daß er nicht gutwillig geht. Vielleicht hat er einen bedeutenden Anhang. 
Die einen wollen ihn behalten, die andern wollen ihn los sein, und der 
Bürgerkrieg ist da. 
Wie würde es sich aber in dem Geschäfts- und Volksleben eines Volks— 
staates gestalten? Stellen wir uns eine Maschinenfabrik vor. Der 
oberste Leiter ist Direktoer. Der Mann muß viel, sehr viel gelernt haben, 
ebenso auch die verschiedenen Techniker und andere Angestellte. Aber auch 
hierzu werden sich so leicht keine Leute finden. Bei gleichem Gehalt werden 
sie vorziehen, lieber Lampenputzer mit ganz kleiner Verantwortlichkeit, als 
Direktoren mit großer Verantwortlichkeit zu werden. Nun sieh auf die Ar— 
beiter selbst! Denke Dir einen geschickten Schmied, der jahrelang im Schweiße 
seines Angesichts ein Musterstück nach dem andern geliefert hat. Ihm gegen— 
über steht ein Jüngling, welcher kaum der Lehrzeit entwachsen ist und weniger 
und schlechtere Arbeit liefert. Jener hat Familie, dieser nicht. Und beide sollen 
doch gleichviel verdienen. Würde dabei nicht der fleißige und geschickte Ar— 
beiter den Mut verlieren, gleichgültig und träge werden? Der Ungeschickte und 
Faule hingegen würde das leicht verdiente Geld verjubeln und verlastern. Der 
gleiche Lohnsatz ist einmal ein Unrecht, und jedes Unrecht rächt sich. — Nach 
wenigen Jahren würde das ganze Arbeiterpersonal eine unsaubere, unzuver 
lässige Gesellschaft sein und das ganze Geschäft zu Grunde richten. — Und 
gerade so käme es mit dem Ackerbauwesen. Menschenkind, denke Dir doch, 
Deine ganze Dorfschaft vom Schulzen bis zum Tagelöhner und Kleinknecht 
herab hätten die ganze Feldmark gemeinschaftlich zu bestellen. Würde das 
eine Wirtschaft werden! Wollte der eine Klee säen, verlangte der andere 
vielleicht Brache, der dritte Kartoffeln gesteckt ꝛc. Auch hier würden Träg 
heit, Liederlichkeit und Großmäuligkeit bald obenauf und der Bankerott vor 
der Thür sein. 
Und wie wäre es mit der Vermögensgleichheit? Der eine würde 
sein Geld verjubeln, der andere zusammenhalten. Nach kurzer Zeit wäre 
die Ungleichheit ebenso groß da, wie jetzt. Es würde wieder Reiche, Wohl— 
habende und Arme geben — und die Teilerei müßte wieder ihren Anfang
	        
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