Full text: Lehr- und Lesebuch für städtische und gewerbliche Fortbildungsschulen

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3. Zum neuen Jahr die alten 
Sorgen, 
noch sind wir nicht im Jubeljahr; 
noch wallen wir auf Pilgerwegen 
bergauf und ab in Sonn' und Regen, 
noch gilt's zu kämpfen immerdar. 
Zum neuen Jahr die alten Sorgen, 
noch sind wir nicht im Jubeljahr. 
4. Zum neuen Jahr ein neues 
Hoffen, 
die Erde wird noch immer grün. 
Auch dieser März bringt Lerchenlieder, 
auch dieser Mai bringt Rosen wieder, 
auch dieses Jahr läßt Freuden blühn. 
Zum neuen Jahr ein neues Hoffen, 
die Erde wird noch immer grün! 
5. Zum neuen Jahr den alten 
Glauben, 
in diesem Zeichen siegen wir. 
Glück zu, mein Volk! Auf allen Bahnen 
entrolle kühn der Zukunft Fahnen, 
doch Christus bleib' das Reichspanier. 
Zum neuen Jahr den alten Glauben, 
in diesem Zeichen siegen wir! 
6. Zum neuen Jahr ein neues 
Herze, 
ein frisches Blatt im Lebensbuch! 
Die alte Schuld sei ausgestrichen, 
der alte Zwist sei ausgeglichen 
und ausgetilgt der alte Fluch. 
Zum neuen Jahr ein neues Herze, 
ein frisches Blatt im Lebensbuch! 
Gerok. 
8. Die Neujahrsnacht eines Unglücklichen. 
Ein alter Mensch stand in der Neujahrsnacht am Fenster und 
schaute verzweiflungsvoll auf zum unbeweglichen, ewig blühenden 
Himmel und wieder herab auf die stille, reine, weiße Exrde, worauf 
jetzt niemand so freuden- und schlaflos war wie er. Der Kirchhof 
lag vor ihm, sein nahes Grab war bloß vom Schnee des Alters 
nicht vom Grün der Jugend verdeckt, und er brachte nichts mit aus 
dem ganzen reichen Leben, nichts mit als Irrtümer, die Brust voll 
Gift und ein Alter voll Reue. Seine schönen Jugendtage wandten 
sich heute als Gespenster um und zogen ihn wieder vor den hellen 
Morgen hin, wo ihn sein Vater zuerst auf den Scheideweg des Lebens 
gestelt hatte, der rechts auf der Sonnenbahn der Tugend in ein 
weites, ruhiges Land voll Licht, in die Heimat der Engel bringt, und 
welcher links in die Maulwurfsgänge des Lasters hinabzieht, in eine 
schwaͤrze Höhle voll heruntertropfenden Gifts, voll zischender Schlangen 
und finsterer, schwüler Dünste. 
Ach, die Schlangen hingen um seine Brust und die Gifttropfen 
auf seiner Zunge, und er wußte nun, wo er war. 
Sinnlos und mit unaussprechlichem Grame rief er zum Himmel 
hinauf: „Gieb mir meine Jugend wieder! O Vater! stelle mich wieder 
auf den Scheideweg, damit ich anders wähle!“ 
Aber sein Vater und seine Jugend waͤren längst dahin. Er sah 
Irrlichter auf Sümpfen tanzen und auf dem Gottesacker erlöschen, 
und er sagte: „Es sind meine thörichten Tage.“ — Er sah einen 
Stern aus dem Himmel fliehen und im Falle schimmern und auf der 
Erde zerrinnen. „Das bin ich,“ sagte sein blutendes Herz, und die 
Schlangenzähne der Reue grüben sich tiefer ein in seine Wunden.
	        
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