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rechte Hand wird kaum zu retten sein. Gebe Gott, daß meine
Ahnung falsch sei; wenn man aber so manchen Erstarrten unter den
Händen gehabt und manches erfrorene Glied zu Gesicht bekommen
hat, da bekommt man einen sichern Blick. — Kommen Sie aber,
meine Herrn, es läutet zum Frühmahle."
Am nächsten Tage schied auch ich vom Hospiz. Ich hatte genug
an den Alpen im Winterkleide.
255. Der Montblanc und sein Eismeer.
Von Göthe.
1. Es wurde dunkler, wir kamen dem Thale Chamouni näher
und endlich darein. Nur die großen Massen waren uns sichtbar. Die
Sterne giengen nach einander aus und wir bemerkten über den Gipfeln
der Berge rechts vor uns ein Licht, das wir nicht erklären konnten.
Hell, ohne Glanz, wie die Milchstraße, doch dichter, fast wie die Ple-
saden, nur größer, unterhielt es lange unsere Aufmerksamkeit, bis
es endlich, da wir unsern Standpunkt änderten, wie eine Pyramide,
von einem innern, geheimnißvollen Lichte durchzogen, das dem Schein
eines Johanniswurms am besten verglichen werden kann, über den
Gipfeln aller Berge hervorragte und uns gewiß machte, daß es der
Gipfel des Montblanc war. Es war die Schönheit dieses Anblicks
ganz außerordentlich; denn, da er mit den Sternen, die um ihn her¬
umstunden, zwar nicht in gleich raschem Licht, doch in einer breitern
zusammenhängenderen Masse leuchtete, so schien er den Augen zu
einer höhern Sphäre zu gehören, und man hatte Müh, in Gedanken
seine Wurzeln wieder an die Erde zu befestigen. Vor ihm sahen wir
eine Reihe von Schneegebirgen dämmernder auf den Rücken von
schwarzen Fichtenbergen liegen und ungeheure Gletscher zwischen den
schwarzen Wäldern herunter ins Thal steigen.
2. Das Thal Chamouni, in dem wir uns befinden, liegt sehr
hoch in den Gebirgen, ist etwa sechs bis sieben Stunden lang und
geht ziemlich von Mittag gegen Mitternacht. Der Charakter, der mir
es vor anderen auszeichnet, ist, daß es in seiner Mitte fast gar keine
Fläche hat, sondern das Erdreich wie eine Mulde sich gleich von
der Arve aus gegen die höchsten Gebirge anschmiegt. Der Mont¬
blanc und die Gebirge, die von ihm herabsteigen, die Eismassen, die
diese ungeheuren Klüfte ausfüllen, machen die östliche Wand aus, an
der die ganze Länge des Thals hin sieben Gletscher, einer größer
als der andere, herunterkommen. Unsere Führer, die wir gedingt
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hatten, das Eismeer zu sehen, kamen bei Zeiten. Der eine ist ein
rüstiger junger Bursche, der andere ein schon älterer und sich klug
dünkender, der mit allen gelehrten Fremden Verkehr gehabt hat, von
der Beschaffenheit der Eisberge sehr wohl unterrichtet und ein sehr
tüchtiger Mann. Er versicherte uns, daß seit achtundzwanzig Jahren
(so lange führ' er Fremde auf die Gebirge) er zum erstenmal
so spät im Jahr, nach Allerheiligen, jemand hinaufbringe; und doch
sollten wir alles ebenso gut wie im August sehen. Wir stiegen, mit
Speise und Wein gerüstet, den Mont-Anvert hinan, wo uns der
Anblick des Eismeers überraschen sollte. Ich würde es, um die Backen
nicht so voll zu nehmen, eigentlich das Eisthal oder den Eisstrom
nennen; denn die ungeheuren Massen von Eis dringen aus einem
tiefen Thal, von oben anzusehen in ziemlicher Ebene hervor. Gerade
hinten endigt ein spitziger Berg, von dessen beiden Seiten Eiswogen
in den Hauptstrom hereinstarren. Es lag noch nicht der mindeste
Schnee auf der zackigen Fläche, und die blauen Spalten glänzten gar
schön hervor. Das Wetter sieng nach und nach an sich zu überziehen,
und ich sah wogige, graue Wolken, die Schnee anzudeuten schienen,
wie ich sie niemals gesehen.
3. In der Gegend, wo wir stunden, ist eine kleine, von Steinen
zusammengelegte Hütte für das Bedürfniß der Reisenden, zum Scherz
das Schloß von Mont-Anvert genannt. Monsieur Blaire, ein Eng¬
länder, der sich zu Gens aufhält, hat eine geräumigere an einem
schicklicheren Ort etwas weiter hinauf erbauen lassen, wo man, am
Feuer sitzend, zu einem Fenster hinaus das ganze Eisthal übersehen
kann. Die Gipfel der Felsen gegenüber und auch in die Tiefe des
Thals hin sind sehr spitzig ansgezackt. Es kommt daher, weil sie
aus einer Gesteinart zusammengesetzt sind, deren Wände fast ganz
perpendikulär in die Erde einschießen. Wittert eine leichter aus, so
bleibt die andere spitz in die Luft stehen. Solche Zacken werden
Nadeln genannt und die Aiguille de Dru ist eine solche merkwürdige
Spitze, gerade dem Mont-Anvert gegenüber. Wir wollten nunmehr
auch das Eismeer betreten und diese ungeheuren Massen auf ihnen
selbst beschauen. Wir stiegen den Berg hinunter und nlachten einige
hundert Schritte auf den wogigen Kristallklippen herum. Es ist ein
ganz trefflicher Anblick, wenn man, auf dem Eise selbst stehend, den
oberwärts sich herabdrängenden und durch seltsame Spalten geschiede¬
nen Massen entgegensieht. Doch wollt' es uns nicht länger auf die¬
sem schlüpfrigen Boden gefallen, wir waren weder mit Fußeisen noch