Full text: Lesebuch für Mädchenfortbildungsschulen

107 
wohl auch eine Brandwache in die Nähe des Rathauses postiert und der 
Türmer gibt mit Fahnen und großem Sprachrohr das Notzeichen. Auch 
das Spritzenhaus wird in Ordnung gehalten; plumpe Feuertonnen stehen 
an der Seite des Vathauses unter offenem Schuppen, über ihnen hängen 
die eisenbeschlagenen Feuerleitern. Sogar die Nachtwächter sind ziemlich 
wachsam und modest;) sie sangen nach dem großen Kriege hie und da 
anzügliche Reime, so oft sie die Stunden abriefen; jetzt aber hat ein 
frommer Pfarrer darauf bestanden, daß Tert und Melodie geistlich sei. 
Der Handwerker arbeitet in der alten Weise fort, fast jeder steht fest 
in seiner Zunft. Streng wird von der Mehrzahl der Handwerker auf 
alte Bräuche, am strengsten auf die Rechte der Zunft gehalten. Wer 
nicht nach Handwerksrecht in die Zunft aufgenommen ist, der wird als 
Pfuscher oder Bönhase) mit einem Hasse verfolgt, der ihn von der bürger⸗ 
lichen Gesellschaft auszuschließen sucht. Die Formel „Mit Gunstl“, welche 
jede Rede einleitet, schallt endlos bei allen Zusammenkünften der Meister 
und der Gesellen; aber die alten Wechselreden und Sprüche des Mittelalters 
sind halb unverständlich geworden, rohe Scherze haben sich eingedrängt 
und die Besseren beginnen bereits nicht viel darauf zu geben. Ja es fehlt 
nicht mehr an solchen, welche die alte Zunftverfassung für eine Last halten 
weil sie ihrem Bestreben sich zu Fabriktätigkeit zu erweitern, hartnäckis 
widerstrebt, — so die großen Tuchmacher und Eisenarbeiter. Und die 
lustigen Jahresfeste, die einst Freude und Stolz fast jeden einzelnen Hand— 
werkers waren, sie sind fast alle abgelebt. 
Geschieden durch Kleidung, Haartracht und Citel stehen die Studenten 
und Beamten als Honoratioren der Stadt über den Bürgern. Wie der 
Adel auf sie, blicken sie auf den handwerker, dieser auf den Bauer herab. 
Auch der Kaufmann, zʒumal wenn er ein Stadtamt bekleidet oder Vermögen 
besitzt, hat unter den honoratioren eine Stellung. Der rohe Luxus einer 
früheren Generation ist gebändigt; bessere Zucht im Hause und größere 
Redlichkeit im Geschäft sind überall zu erkennen. Schon hat sich in den 
Familien der großen Raufleute etwas von dem Weltbůürgertum entwickelt, 
welches mit Verachtung auf die beschränkenden Verhältnisse der Heimat 
herabsieht. 
II. 
3 
Noch immer wurde von verständigen und redlichen Leuten laboriert,) 
ernsthaft wurde das große Geheimnis gesucht, immer kam ihnen etwas 
dazwischen, was den letzten Erfolg hinderte. Geheimnisvoll wurden solche 
Abeiten betrieben, aber die Stadt wußte recht gut, daß der Herr Rat oder 
*) ⸗ bescheiden. **) ⸗ einer, der ohne Berechtigung ein Handwerk ausübt. 
***8) —⸗ im Laboratorium, der chemischen Werkstatt, gearbeitet, d. h. das Gold— 
machen probiert.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.