fullscreen: Lesebuch für Mädchenfortbildungsschulen

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als nach der Erbauung der ersten Eisenbahnen der erste Zentner Stein⸗ 
kohlen und der erste Proletarier in München einzog, war die Umgestaltung 
der Münchner Bevölkerung besiegelt. Die Schrannenbauern und Flößer 
verloren sich in ein paar altstädtischer Straßen und an den Isarufern; 
neben dem Münchner Kleingewerbe entstand eine rasch aufblühende Groß— 
industrie; die Kleinkrämer verkrochen sich unter die finstern Löcher des 
Marienplatzes, und in die Läden der Kaufinger- und Theatinerstraße zogen 
unternehmende Großkaufleute; an die Stelle der Fuhrmannsherbergen 
traten große Gasthöfe; Geschäftsleute, Studenten, Künstler und Gelehrte 
kamen aus allen Teilen Deutschlands. Die Lage der Stadt am Rande 
der Alpen und ihre Verschönerung durch König Ludwig brachten einen 
mächtigen und anregenden Fremdenstrom. Die Stadt begann Reize zu 
entfalten, die andere deutsche Städte nicht kannten; das bewog eine Menge 
von wohlhabenden Familien aus Mittel- und Norddeutschland sich dauernd 
hier niederzulassen — bloß wegen der Schönheit des Münchner Lebens. 
Mißtrauisch und ablehnend betrachtete der alte eingeborne Münchner zuerst 
diesen Zudrang. Die Fremden brachten ja eine neue Ausdrucksweise, 
neue Umgangsformen und Lebenssitten, vor allem einen ungewöhnlichen 
energischen Arbeitsgeist. Das störte die Gemütlichkeit des alten Münchners; 
er wehrte sich lange und zäh mit Worten und Ellenbogen gegen die 
Eindringlinge. Aber eine jüngere Generation von Eingebornen erkannte 
die Vorzüge, die eine Auffrischung und Belebung durch diese Fremden 
haben mußte. Man lernte, was man von ihnen Gutes lernen konnte; 
man fing an mit ihnen zu wetteifern, ward sich der eigenen Kraft bewußt 
und verzichtete auf einen Teil der heimischen Gemütlichkeit um energischer 
zu arbeiten. So fand denn eine durchgreifende Umgestaltung des Münchner 
Lebens statt mit dem großen und glänzenden Erfolge, daß die alten 
Münchner verjüngt und veredelt, die Zugewanderten aber gerne wirkliche 
Münchner geworden sind, daß die Gegensätze als abgeschliffen und die 
freundlichen Beziehungen als unzerreißbar erscheinen. 
II. 
Ein Arbeiterproletariat ist in München viel später erwachsen als 
in anderen gleich großen Städten, weil München von Haus aus keine 
Industriestadt war, und weil ihm auch aus den bayerischen Landbezirken 
kein massenhaftes Proletariat zuströmt. Die Münchner Arbeiterbevölkerung 
befindet sich aber auch in einer wirtschaftlichen und sozialen Stellung, 
welche — verglichen mit der Lage der Arbeiterbevölkerung in anderen 
Städten — nur günstig erscheint. Die Hauptmasse der Bevölkerung aber 
besteht aus dem kleinen und mittleren Bürgerstande und ihren Angehörigen. 
Diese Leute sind's, die mit ihrer Lebensweise, mit ihren Ansprüchen und
	        
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