144
VI. Aus der Welt der Märchen und Fabeln.
Noch ganz voll von seinem Glücke, erzählte der Holzhauer den
Vorfall seinen Kameraden. ,Äalt/ dachte einer derselben, ,das werd'
ich auch einmal versuchen; warum sollte mir's nicht auch gelingen, durch
die Güte des Gottes reich zu werden?< Er trat also an den Fluß,
schleuderte seine Axt hinein, setzte sich ans Äser und erhob ein Klage¬
geschrei. Alsbald erschien auch ihm der Gott und fragte, was er jam¬
mere. Kaum hatte er. es vernommen, so sprang er in den Strom,
holte auch diesmal eine goldene Axt heraus und hielt sie dem entzückten
Holzhauer vor die Augen. „War's nicht diese," fragte er, „die dir
abhanden kam?" „Wahrlich, die ist's!" rief der Begierige und streckte
die Land aus. Der Gott aber wandte voll Abscheu dem schamlosen
Lügner den Rücken, und dieser mußte nicht nur der goldenen Axt lüstern
nachsehen, sondern erhielt auch nicht einmal seine eigene zurück.
158. Das Christbäumchen.
Von Georg Wilhelm Curtman.
Die Bäume hatten einmal Streit untereinander, welcher von ihnen
der vorzüglichste sei. Da trat die Eiche hervor und sagte: „Seht mich
an, ich bin hoch und dick und habe viele Äste, und meine Zweige sind
reich an Blättern und Früchten!" — „Früchte hast du wohl," sagte
der Pfirsichbaum, „aber es sind nur Früchte für die Schweine, die
Menschen mögen nichts davon wissen. Ich liefere dagegen meine rot¬
backigen Pfirsiche auf die Tafeln der Könige." — „Das hilft nicht
viel," sagte der Apfelbaum, „von deinen Pfirsichen werden nur wenige
Leute satt, auch dauern sie nur einige Wochen, dann werden sie faul,
und niemand kann sie mehr brauchen. Da bin ich ein anderer Baum,
ich trage alle Jahre Körbe voll Äpfel, die brauchen sich nicht zu schämen,
wenn sie auf eine vornehme Tafel gesetzt werden. Aber sie machen
auch die Armen satt, man kann sie den ganzen Winter im Keller auf¬
bewahren, man kann sie im Ofen dörren oder Wein daraus keltern.
Ich bin der nützlichste Baum." — „Das bildest du dir ein," sagte die
Tanne, „aber du irrst dich. Mit meinem Äolze heizt man die Öfen
und baut die Ääuser, mich schneidet man zu Brettern und macht Tische,
Stühle, Schränke, ja, sogar Nachen und Schiffe daraus, dazu bin ich
im Winter nicht so kahl wie ihr, ich bin das ganze Jahr hindurch grün
und schön." — „Das nämliche bin ich auch," sagte die Fichte, „allein
ich habe noch einen Vorzug. Wenn Weihnachten wird, dann kommt das
Christkindchen, man setzt mich in ein schönes Gärtchen und hängt goldene
Nüsse und Äpfel, Mandeln und Rosinen an meine Zweige. And über
mich freuen sich die Kinder an: allermeisten. Ist das nicht wahr?"