210
bat um Nachtherberge. Der Ritter wies ihn trotzig ab und
sprach: „Dieses Schloß ist kein Gasthaus." Der Pilger sagte:
„Erlaubt mir nur drei Fragen, so will ich weitergehen."
Der Ritter sprach: „Auf diese Bedingung hin mögt Ihr immer
fragen. Ich will Euch gern antworten."
Der Pilger fragte ihn nun: „Wer wohnte doch wohl vor
Euch in diesem Schlosse?" „Mein Vater!" sprach der Ritter.
Der Pilger fragte weiter: „Wer wohnte vor Euerm Vater
da?" „Mein Großvater!" antwortete der.Ritter. „Und wer
wird wohl nach Euch darin wohnen?" fragte der Pilger weiter.
Der Ritter sagte: „So Gott will, mein Sohn!"
-„Nun," sprach der Pilger, „wenn jeder nur eine Zeit in
diesem Schlosse wohnt und immer einer dem andern Platz
macht — was seid ihr denn anders hier als Gäste? Dieses
Schloß ist also wirklich ein Gasthaus. Verwendet daher nicht
so viel, dieses Haus so prächtig auszuschmücken, das Euch nur
kurze Zeit beherbergt. Tut lieber den Armen Gutes, so bauet
Ihr Euch eine bleibende Wohnung im Himmel."
Der Ritter nahm diese Worte zu Herzen, behielt den Pilger
über Nacht und wurde von dieser Zeit an wohltätiger gegen die
Armem
256. Das Kätzchen und die Stricknadeln.
Von Ludwig Bechstein.
Es war einmal eine arme Frau, die in den Wald ging,
um Holz zu lesen. Als sie mit ihrer Bürde auf dem Rückwege
war, sah sie ein krankes Kätzchen hinter einem Zaune liegen,
das kläglich schrie. Die arme Frau nahm es mitleidig in ihre
Schürze und trug es nach Hause. Auf dem Wege kamen ihre
beiden Kinder ihr entgegen, und als sie sahen, daß die Mutter
etwas trug, fragten sie: „Mutter, was trägst du?" und wollten
gleich das Kätzchen haben; aber die mitleidige Frau gab den