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„daß wir vielleicht mit dem Leben davonkommen" — da führte ihn der
Plötzliche Windbraus, der vor der Lawine hergeht, vom Dache hinweg und
hob ihn schwebend in der Luft, wie einen Vogel, über einen entsetzlichen
Abgrund. Und als er eben in Gefahr war, in die unermeßliche Tiefe
hinab zu stürzen, da streifte die Lawine an ihm vorbei und warf ihn seit¬
wärts an eine Halde. In der Betäubung umklammerte er noch einen
Baum, an dem er sich festhielt, bis alles vorüber war, und kam glücklich
davon und ging wieder heim zu seinem Bruder, der auch noch lebte, ob¬
gleich der Stall neben dem Häuschen wie mit einem Besen weggewischt
war. Da konnte man wohl auch sagen: „Der Herr hat seinen Engeln
befohlen über dir, daß sie dich auf den Händen tragen".
Anders ging es in Sturnen, ebenfalls im Kanton Uri. Nach dem
Abendsegen sagte der Vater zu seiner Frau und den drei Kindern: „Wir
wollen doch noch ein Gebet verrichten für die armen Leute, die in dieser
Nacht in Gefahr sind". Und während sie beteten, donnerte schon aus allen
Thälern der ferne Wiederhall der Lawinen, und während sie noch beteten,
stürzte plötzlich der Stall und das Haus zusammen. Der Vater wurde
vom Sturmwind hinweggeführt, hinaus in die fürchterliche Nacht und
unten am Berge abgesetzt und von dem nachwehenden Schnee begraben.
Noch lebte er; als er aber am anderen Morgen mit unmenschlicher An¬
strengung sich hervorgegraben und die Stätte seiner Wohnung wieder
erreicht hatte und sehen wollte, was aus den Seinigen geworden sei,
barmherziger Himmel! da war nur Schnee und Schnee und kein Zeichen
einer Wohnung, keine Spur des Lebens mehr wahrzunehmen. Doch ver¬
nahm er nach langem, ängstlichem Rufen, wie aus einem tiefen Grabe
die Stimme seines Weibes unter dem Schnee herauf. Und als er sie
glücklich und unbeschädigt hervorgegraben hatte, da hörten sie plötzlich noch
eine bekannte und liebe Stimme: „Mutter, ich wäre auch noch am Leben,"
rief ein Kind, „aber ich kann nicht heraus". Nun arbeiteten Vater und
Mutter noch einmal und brachten auch das Kind hervor, und nur ein
Arm war gebrochen. Da ward ihr Herz mit Freude und Schmerzen er¬
füllt, und von ihren Augen flössen Thränen des Dankes und der Weh¬
muth. Denn die zwei andern Kinder wurden auch noch herausgegraben,
aber todt.
In Pilzeig, ebenfalls im Kanton Uri, wurde eine Mutter mit zwei
Kindern fortgerissen und unten in der Tiefe vom Schnee verschüttet. Ein
Mann, ihr Nachbar, den die Lawine ebenfalls dahin geworfen hatte,
hörte ihr Wimmern und grub sie hervor. Vergeblich war das Lächeln der
Hoffnung in ihrem Antlitz. Als die Mutter halb nackt umher schaute,
kannte sie die Gegend nicht mehr, in der sie war. Ihr Retter selbst war
ohnmächtig niedergesunken. Neue Hügel uud Berge von Schnee und ein
entsetzlicher Wirbel von Schneeflocken füllten die Luft. Da sagte die
Mutter: „Kinder, hier ist keine Rettung möglich; wir wollen beten und