Full text: Unterstufe: Zweiter Kursus (Teil 2, [Schülerband])

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dann erzählt das Veilchen als ein lustiger Wirt seinen Gästen 
auch ein schnurriges Märchen: 
„Ihr freut euch über die Blätter meiner Blüte," spricht es; 
„schaut sie aber einmal genauer an, sie sind nicht von gleicher 
Größe uijd nicht von gleichem Schmuck. Das unterste macht 
sich so groß und breit, es ist eine böse Stiefmutter, die alles 
geizig für sich nimmt; auf zwei Stühle hat sie sich mit einem 
Male gesetzt; denn sehet, zwei Kelchblätter stehen unter diesem 
großen Blatte. Links und rechts kommen ihre beiden Töchter, 
jeder gab sie ein besonderes Stühlchen; aber ganz entfernt von 
ihr müssen die beiden obersten Blätter, ihre Stieftöchter, sich 
kümmerlich zusammen mit einem Stühlchen begnügen. Da er¬ 
barmt sich der liebe Gott der verlassenen Stieftöchter, er straft 
die böse Stiefmutter und ihre eitlen rechten Töchter, er dreht 
den Stiel der Blüte herum — nun ist die Stiefmutter zu unterst 
gekommen, die früher zu oberst war, als der Stiel sich gerade 
streckte, sie hat hinten einen gewaltigen Höcker erhalten, und 
den beiden rechten Töchtern ist ein Bart gewachsen zur Strafe 
für ihren Stolz, so daß sie ausgelacht werden von allen Kindern, 
die es sehen; die verachteten Stieftöchter sind aber die obersten 
geworden." 
Noch vieles erzählt das Veilchen seinen Gästen von seinen 
Verwandten, von dem bunten Blümchen, das die Menschen wegen 
jener Erzählung Stiefmütterchen nennen, von dem blassen Veil¬ 
chen im Walde und im Sumpf, von dem gelben hoch droben auf 
der Alp, bis die sinkende Sonne die Gäste zum Scheiden ermahnt. 
Sie sagen Ade, sehr ergötzt von der lustigen Erzählung. So 
verstreicht heiter Tag für Tag, bis am Sonntag die Kinder zur 
Hecke kommen, das Veilchen zu suchen. Jubelnd tragen sie es 
heim und pflanzen es ins Gärtchen, pflegen es, bis es verblüht, 
oder pflücken es zum duftenden Sträußchen, ein Geschenk für 
\ater und Mutter. Hermann Wagner. 
26. Die Moosrose. 
Der Engel, der die Blumen verpflegt und in stiller Nacht den Tau 
darauf träufelt, fchlummerte an einem Frühlingstage im Schatten eines 
Rosenstrauches. 
Und als er erwachte, da sprach er mit freundlichem Antlitz: „Lieb¬ 
lichstes meiner Kinder, ich danke dir für deinen erquickenden Wohlgeruch 
und für deine kühlenden Schatten. Könntest du dir noch etwas erbitten, 
wie gern würd' ich es dir gewähren!"
	        
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