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30. Die tauben Ähren.
In einem Kornfelde standen zwei Halme mit tauben Ähren dicht
nebeneinander. Sie waren aus einer Wurzel gewachsen, waren anfangs
mit den übrigen Ähren gleich hoch gewesen; um die Blütezeit aber waren
die andern zurückgeblieben, während sie noch um ein weniges höher
wuchsen. „Wir sind jedenfalls aus edlerem Samenkorn entstanden," sagten
sie zueinander, als sie merkten, daß sie über die anderen hervorragten.
Allmählich schwollen die anderen Ähren von der Frucht an und neig¬
ten sich. „Siehe," sagte die eine der tauben Ähren zu der anderen, „sie
neigen sich vor uns; sie erkennen es an, daß wir bester sind als sie."
„Das ist ganz natürlich," sagte die andere. „Hast du nicht gesehen,
wie der Herr des Feldes sein Haupt hoch und gerade trägt, während die
anderen vor ihm sich neigen, wenn sie ihm begegnen? Er ist gewiß auch
edlerer Abkunft als die anderen Menschen."
Und die anderen Halme neigten ihre Häupter immer tiefer, und der
Dünkel der Hohlköpfigen stieg immer höher. Wenn die Sonne aufging,
verharrten die schweren Ähren in ihrer Stellung, hoben nicht ihre Häupter
und wendeten sie auch nicht.
„Sie wagen es nicht, mit uns zugleich nach der Himmelskönigin zu
blicken," sagte die eine der Stolzen, und die andere fuhr fort: „Sie kommt
gewiß auch nur unsertwegen, um uns zu grüßen."
Wenn der leichte Abendwind kam, so stand das ganze Feld still, nur
diese beiden wiegten sich. „Früher", sagten sie dann wohlgefällig, „waren
ihm alle gleich, er trieb mit allen seinen Mutwillen — jetzt hat er unsere
Hoheit erkannt und spielt nur mit uns allein."
Aber die anderen Halme wurden immer segensschwerer und neigten
immer mehr ihre Häupter. Da kam eine Schar frecher Spatzen, die
ließen sich auf die Fruchthalme nieder und hackten mit ihren Schnäbeln
auf die gebeugten Köpfe derselben.
„An uns wagen sie sich nicht!" sagten die Stolzen, und die eine
fuhr fort: „Es ist zwar sehr dreist von den Herren Spatzen, aber es macht
ihrem Verstände doch alle Ehre, daß sie zwischen Hohem und Niederem
einen Unterschied zu machen verstehen."
Um diese Zeit kam zuweilen der Herr des Feldes vorüber, griff mit
seiner Hand auch zuweilen an die Ähren der anderen Halme, riß wohl
eine ganz ab und zerrieb sie in seiner Hand.
„Der macht es mit ihnen noch ärger als die Spatzen!" sagte eine
der Hohen, und die andere fuhr fort: „Es scheint nun einmal ihr Los
zu sein, zerhackt und zerzaust zu werden."
Einstmals kam der Herr des Feldes mit seinem kleinen Söhnlein an
der Hand, und sie standen eben an der Stelle still, wo nicht weit vom
Wege die beiden tauben Ähren über die anderen hervorragten. „Sieh.