Full text: Lesebuch für landwirtschaftliche Winterschulen und ländliche Fortbildungsschulen

131 
Denn geendigt nach langem, verderb— 
lichen Streit 
War die kaiserlose, die schreckliche Zeit, 
Und ein Richter war wieder auf 
Erden. 
Nicht blind mehr waltet der eiserne 
Speer, 
Nicht fürchtet der Schwache, der Fried⸗ 
liche mehr, 
Des Mächtigen Beute zu werden. 
Und der Kaiser ergreift den gold'nen 
Pokal 
Und spricht mit zufriedenen Blicken; 
„Wohl glänzet das Fest, wohl pranget 
das Mahl, 
Mein königlich Herz zu entzücken; 
Doch den Sänger vermiß ich, den 
Bringer der Lust, 
Der mit süßem Klang mir bewege 
die Brust 
Und mit göttlich erhabenen Lehren. 
So hab' ich's gehalten von Jugend an, 
nd was ich als Ritter gepflegt und 
getan, 
Nicht will ich's als Kaiser entbehren.“ 
Und sieh! in der Fürsten umge— 
benden Kreis 
Trat der Sänger im langen Talare; 
Ihm glänzte die Locke silberweiß, 
Gebleicht von der Fülle der Jahre. 
„Süßer Wohllaut schläft in der 
Saiten Gold; 
Der Sänger singt von der Minne Sold, 
Er preiset das Höchste, das Beste, 
Was das Herz sich wünscht, was der 
Sinn begehrt; 
Doch sage, was ist des Kaisers wert 
An seinem herrlichsten Feste?“ 
„Nicht gebieten werd' ich dem 
Sänger“, spricht 
Der Herrscher mit lächelndem Munde; 
„Er steht in des größeren Herren 
e. 
Er gehorcht der gebietenden Stunde. 
Wie in denLüften der Sturmwind saust, 
Man weiß nicht, von wannen er 
kommt und braust, 
Wie der Quell aus verborgenen Tiefen: 
So des Sängers Lied aus dem Innern 
schallt 
Und wecket der dunkeln Gefühle Ge— 
walt, 
Die im Herzen wunderbar schliefen.“ 
Und der Sänger rasch in die 
Saiten fällt 
Und beginnt sie mächtig zu schlagen: 
„Aufs Weidwerk hinaus ritt ein 
edler Held, 
Den flüchtigen Gemsbock zu jagen, 
Ihm folgte der Knapp' mit dem 
Jägergeschoß; 
Und als er auf seinem stattlichen Roß 
In eine Au kommt geritten, 
Ein Glöcklein hört er erklingen fern — 
Ein Priester war's mit dem Leib 
des Herrn; 
Voran kam der Mesner geschritten. 
Und der Graf zur Erde sich het 
in, 
Das Haupt mit Demut entblößet, 
Zu verehren mit gläubigem d 
inn, 
Was alle Menschen erlöset. 
Ein Bächlein aber rauschte durchs 
Feld, 
Von des Gießbachs reißenden Fluten 
geschwellt, 
Das hemmte der Wanderer Tritte; 
Und beiseit legt jener das Sakrament, 
Von den Füßen zieht er die Schuhe 
behend, 
Damit er das Bächlein durchschritte. 
„Was schaffst du?“ redet der Graf 
ihn an, 
Der ihn verwundert betrachtet. 
„„Herr, ich walle zu einem sterbenden 
Mann, 
Der nach der Himmelskost schmachtet, 
Und da ich mich nahe des Baches Steg 
Da hat ihn der strömende Gießbach 
hinweg 
Im Strudel der Wellen gerissen. 
Drum, daß dem Lechzenden werde 
sein Heil, 
So will ich das Wässerlein jetzt in Eil' 
Durchwaten mit nackenden Füßen.““
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.