47. Böhmische Glasindustrie.
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irgend einem dieser glänzenden und dabei doch so billigen Artikel ver—
sorgt wird.
Reichenberg, wo wir behufs unserer Wanderung die Eisenbahn ver—
lassen, hat sich in neuerer Zeit zum Range einer der ersten Fabrikstädte
Osterreichs aufgeschwungen, eine Stufe, die jene Stadt schon im Mittel—
alter einmal behauptete, wo die Reichenberger Tuchweberei sich eines
Weltrufes erfreute. Abgesehen von ihrer industriellen Bedeutung setzt
die Stadt Reichenberg ihren Stolz darein, die Vertreterin und Beschützerin
deutscher Interessen gegenüber den tschechischen Bestrebungen zu sein.
Während nur wenige Stunden weiter nach Süden die Bevölkerung eine
überwiegend tschechische ist und dort, besonders in kleinen Dörfern, der
Sprachunkundige oft in Verlegenheit kommt, ist in Reichenberg und
Umgebung die deutsche Sprache die herrschende. Der lebhafte Verkehr
mit den Bewohnern tschechischer Ortschaften macht jedoch auch für die
Deutschböhmen die Kenntnis der tschechischen Sprache notwendig, während
umgekehrt die gebildeten Klassen tschechischer Städte ihre Kinder gern
schon in der Jugend die deutsche Sprache erlernen lassen. Um diesen
Sprachunterricht zu erleichtern, ist man auf ein sehr praktisches Auskunfts⸗
mittel verfallen, deutsche Familien schicken nämlich eines oder mehrere
ihrer Kinder zu Familien in böhmischen Städten, wie Gitschin, Semil
und Pardubitz u. s. w. und nehmen dagegen eine gleiche Anzahl Kinder
jener böhmischen Familien während dieser Zeit zu sich in das Haus, so
lange bis die erforderliche Sprachfertigkeit auf beiden Seiten erlangt ist.
Anerbietungen und Gesuche in Betreff dieses sogenannten ,Kindertausches“
kann man fast täglich in der „Reichenberger Zeitung“ finden.
Von Reichenberg führt unser Weg anfangs aufwärts im Thale der
Neiße, welche trotz ihres kurzen Laufes schon eine ansehnliche Kraft
erlangt hat. Aus allen Nebenthälern stürzen muntere Bäche, die ihre
Gewässer mit denen der Neiße vereinigen. Die Industrie hat die mächtige
Wasserkraft wohl zu benutzen verstanden; denn häufig begegnen wir
großartigen Spinnereien und Tuchfabriken, deren weiße Gebäude freundlich
aus der dunkelgrünen Umgebung der Nadelwälder hervortreten. Nach
anderthalbstündiger Fahrt erreicht man Gablonz, eine mächtig aufblühende,
überaus freundliche Stadt von 7000 Einwohnern. Vor wenigen Jahr—
zehnten war Gablonz nur ein unansehnliches, ärmliches Dorf und jetzt
bildet es den Hauptstapelplatz für die Produkte der thalaufwärts sich
ausbreitenden Glaskurzwarenfabrikation. Trotz der geringen Fruchtbar—
keit des gebirgigen Bodens, der nicht für den zehnten Teil der Be—
völkerung hinreichende Nahrungsmittel produzieren könnte, kommen auf
die noch nicht vier Quadratmeilen umfassenden Bezirke Gablonz und