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voll, mit der Hand und sagte: „Armes Weib, traure mir nicht zu
sehr im Herzen; gegen das Geschick wird mich niemand töten, dem
Verhängnis aber ist noch kein Sterblicher entronnen. Auf, geh' du
zur Spindel und zum Webstuhl und befiehl deinen Weibern! Den
Männern Trojas liegt die Sorge für den Krieg ob, am meisten
aber mir!" Als er dies gesagt, setzte sich Hektar den Helm auf
und ging davon. Auch Andromache schritt dem Hause zu, indem
ste wiederholt rückwärts blickte und herzliche Tränen weinte. Als
die Mägde in der Kammer sie erblickten, teilte sie ihnen allen ihren
Gram und ihre Betrübnis mit, und Hektar wurde bei lebendigem
Leibe in seinem Palast betrauert. Schwab.
53. Kindesliebe. »
1. Ein preußischer Offizier hielt sich einst als Werber in
der Festung zu Ulm auf. Eines Abends meldete sich bei
ihm ein junger Mann, um sich anwerben zu lassen. Er war
schön gewachsen, schien wohlerzogen und brav; aber wie er
vor den Offizier trat, zitterte er an allen Gliedern. Der Offizier
schrieb das der jugendlichen Furchtsamkeit zu und fragte ihn,
was er besorge. „Ich fürchte, daß Sie mich abweisen,“ ver¬
setzte der junge Mensch, und indem er dieses sagte, rollte eine
Träne über seine Wange. „Nicht doch,“ versicherte ihn der
Offizier, „Sie sind mir außerordentlich willkommen. Wie
konnten Sie so etwas befürchten?“ — „Weil Ihnen das Hand¬
geld, welches ich fordern muß, vermutlich zu hoch kommen wird.“
„Wie viel verlangen Sie denn?“
2. „Eine dringende Notwendigkeit zwingt mich, hundert
Gulden (171 M. 43 Pf., rund 175 M.) zu fordern, und ich bin
der unglücklichste Mensch in der Welt, wenn Sie sich weigern,
mir soviel zu geben."
3. „Hundert Gulden ist freilich viel, aber Sie gefallen mir!
Ich glaube, daß Sie Ihre Pflicht tun werden, und ich will nicht
mit Ihnen handeln. Hier ist das Geld; morgen reisen wir ab!“
4. Er zahlte ihm die hundert Gulden aus, und das Gesicht
des jungen Mannes leuchtete vor Freude, als er sich im Be¬
sitze der gewünschten Summe sah. Dann bat er um die Er¬
laubnis, sich noch eine Stunde lang entfernen zu dürfen, da er
eine heilige Pflicht zu erfüllen habe. Der Offizier traute seinem
M aiIänder, Teutsches Lesebuch. II. 3. Aufl. 5