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Die Frau in Gemeinde und Staat.
141. Cuile Scheppler,
die Gründerin der ersten Riĩnderbewahranltalt.
Wohl dem Kinde, das von klein auf eine liebevolle Pflege und sorgfältige
Erziehung genießt! Und doch, wie viele entbehren sie! Müssen doch so viele
Eltern, Mütter wie Väter, ihrem notdürftigen Erwerbe außer dem Hause nach—
gehen. Da hat nun die barmherzige Nächstenliebe zu der Einrichtung von
Kinderbewahranstalten geführt, in denen jenen Kindern Aufsicht und Pflege
während des Tages zuteil wird.
Die Schöpferin dieser Anstalten war ein einfaches Mädchen, die Dienst—
magd des durch seine menschenfreundlichen Bestrebungen so bekannt gewordenen
Pfarrers zu Waldbach im Steintal, Fritz Oberlin. Jenes Tal in den wilden
Vogesen war ganz von Protestanten bewohnt und hatte in jenem schrecklichen
Religionskriege, der Dreißigjährige Krieg genannt, außerordentlich gelitten.
Gegen hundert Familien etwa gewannen in jenem viele Stunden langen Tale
ihren Unterhalt; Holzäpfel und wilde Birnen, Gras, in Milch gekocht, waren
oft die leibliche Nahrung der in elenden Hütten Wohnenden, und um die
geistige Nahrung stand es nicht besser. Oberlin nun, der im Jahre 1767 nach
Waldbach als Pfarrer versetzt wurde, ist zum großen Wohltäter seiner Gemeinde
geworden. Er verbesserte die Landwirtschaft, die Wiesenanlagen, den Obstbau,
legte Brücken und Straßen an, die er eigenhändig mit seinen Bauern baute,
er führte Industrie ein, gründete Spar- und Vorschußkassen, baute Schulen
und war Lehrer, Prediger, Arzt, Krankenwärter, Seelsorger, Landwirt, alles
in einer Person.
Eine treue Gefährtin bei solch unermüdlichem Schaffen war seine Gattin
Magdalene. Sie durchwanderte helfend, beratend und tröstend das Steintal,
brachte stärkende Nahrung und Arzenei für die Kranken, selbstgenähte Kleider
für die Dürftigen, Belehrung und guten Rat für alle.
Auf diesen Gängen war die Pfarrfrau oft begleitet von einem kleinen
Mädchen, einem armen Kinde aus Bellefosse; es ist dies ein Weiler, welcher
zur Pfarrei Waldbach gehörte. Das Mädchen hieß Luise Scheppler und
war geboren am 4. November 1763. Luise kannte keinen höhern Genuß, als
in dem Pfarrhause kleine Dienstleistungen zu übernehmen oder der Frau
Pfarrerin auf ihren Gängen zu den Armen und Kranken den Korb mit den
Lebensmitteln zu tragen. Die größte Freude aber ward ihr zuteil, als sie
nach ihrer Konfirmation als Magd in das Pfarrhaus einziehen konnte. Man
hatte hier schon lange das Kind mit dem regen Geiste und dem herrlichen
Gemüte lieb gewonnen; und gar bald merkten die braven Pfarrersleute, daß
sie an der neuen Magd nicht nur eine Helferin im Hause, sondern auch eine
treffliche Gehilfin ihres Wirkens in der Gemeinde gefunden hatten.
Luise hatte eine große Liebe zu kleinen Kindern; mitleidig blickte sie
auf diese, wenn sie, sich ganz allein überlassen, auf der Straße lärmend oder
auch weinend sich aufhielten; denn viele Eltern waren fort in den Wald oder
auf das Feld und die Kleinen ohne alle Aufsicht und dadurch vielen Gefahren,
vor allem der Gefahr der Verwahrlosung, ausgesetzt. Luise sann und sann, ob
es nicht möglich sei, von ganz früh an ein besseres Geschlecht heraufzuziehen.
Da nahm sie einmal eine Anzahl kleiner Mädchen und Knaben in müutterliche
Pflege, reinigte ihnen zuerst Gesicht und Hände, setzte sie dann in Reih und
Glied und erzählte ihnen kleine Geschichten, sang ihnen ein Liedchen vor, spielte
dann mit ihnen, zeigte und erklärte ihnen Bilder — kurz, das Steintaler
Dienstmädchen tat, was jetzt die dazu besonders vorbereiteten Kindergärtnerinnen