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Die Frau in Gemeinde und Staat. 
heilvoller Einfluß der neuen Kollegin auf M. geltend. Jene war immer geputzt, 
was M.s Neid erregte. Sie war weniger der Arbeit als dem Vergnügen zugetan, 
von dem sie eigentlich ausschließlich sprach. Sie machte sich bald über Mis an— 
spruchsloses Leben und ihre Dummheit, wie sie es nannte, lustig und suchte sie 
auf ihre Seite zu ziehen. In M.'s gutmütigem, aber nicht sehr festem Charakter 
fand sie wenig Widerstand. Gute und böse Kräfte stritten darin noch um die 
Herrschaft, aber der Leichtsinn gewann die Oberhand. M. ließ sich bereden, am 
kommenden Sonntag mit der Kollegin zum Tanz zu gehen. Den Eltern gegen— 
über gab sie an, zu der „Freundin“ eingeladen zu sein. Die Hauptfrage war nun 
noch der Anzug. Ihr weißes Sonntagskleid war nur einfach, und in der Waren— 
abteilung neben der ihren lockten die farbenprächtigsten, schmucksten Sachen, die 
sie von nun an nur noch mit dem Gedanken betrachtete, wie dieser unerreichbare 
Putz sie kleiden müßte. Und so geschah es: am Sonnabend, als das Geschäft 
abends schon fast leer war, blieb M. einen Augenblick zurück und entwendete einen 
Ballschal und einen Seidengürtel. Ob sie, mit diesen Sachen geputzt, wohl das 
Tanzvergnügen wirklich genoß? Schon am Montag darauf wurde der Diebstahl 
entdeckt. Das angestellte Verhör verwickelte M. bald in Widersprüche. Sie gestand 
endlich. Der Besitzer des Warenhauses, der früher mit zu großer Güte in 
solchen Fällen schlechte Erfahrungen gemacht hatte, verfügte nicht nur sofortige 
Entlassung, sondern auch Anzeige beim Jugendgericht. So schwere Tage, wie sie 
nun die armen Eltern erlebten, hatten sie trotz vieler Sorgen früher noch nicht 
durchgemacht. Eine Helferin vom Jugendgerichte kam, sich nach den Familien— 
verhältnissen und der Missetäterin näher zu erkundigen. Ihr günstiger Bericht 
über die bisherige völlige Unbescholtenheit des Mädchens, den guten Leumund der 
Eltern, M.s offenes Geständnis vor dem Richter, ihre Reue erwirkten ihr eine 
verhältnismäßig geringe Strafe und Bewährungsfrist. Die ihr zur Schutzaufsicht 
bestellte Dame nahm sich M.s so liebevoll an, daß der letzte Trotz und Leicht— 
sinn bald aus ihrem Herzen verschwand. Die Dame sorgte dafür, daß M. eine 
neue Stellung erhielt. Der neue Vorgesetzte mußte zwar von dem Vorgefallenen 
Kenntnis bekommen, aber er wagte den Versuch. M. lohnte sein Vertrauen mit 
größtem Pflichteifer und peinlichster Gewissenhaftigkeit. Seit zwei Jahren ist sie 
jetzt in demselben Geschäfte tätig. 
Diese nach dem Leben erzählte Begebenheit zeigt, wie wertvoll die seit dem 
Jahre 1911 bestehenden Jugendgerichte sind. Während früher vor dem Gesetze die 
Kinder und jungen Menschen den Erwachsenen gleichgestellt waren, zieht das 
Jugendgericht in Betracht, daß Verstand und Charalter der Jugendlichen noch nicht 
voll entwickelt sind, daß infolgedessen die Einsicht in die strafbare Handlung nicht 
immer im ganzen Umfange vorhanden ist. Kinder bis zum 12. Lebensjahre werden 
als strafunmündig betrachtet. Jugendliche Missetäter zwischen dem 12. und 18. Lebens— 
jahre werden vor das Jugendgericht gebracht. Die verhängten Strafen sind ganz 
verschieden und bewegen sich — je nach der Schwere der Tat — zwischen Ver— 
weis und Gefängnis. In gewissen Fällen wird Zwangserziehung angeordnet. Wenn 
gegründete Aussicht auf Besserung des Verurteilten besteht, so kann der Jugend— 
richter Strafaufschub eintreten lassen, d. h, die Strafe wird vorläufig nicht aus— 
geführt und vollständig erlassen, wenn sich der Bestrafte während einer ihm ge— 
lassenen Frist gut führt und sich nicht das mindeste zuschulden kommen läßt. 
In dieser Bewährungsfrist wird er einem Herrn oder einer Dame unterstellt, die 
freiwillige Helfer beim Jugendgericht sind, die ihm helfen sollen, die gesetzte Be— 
währungszeit hindurch auszuhalten. Diese Einrichtung nennt man Schutzaufsicht. 
Sie soll dem verurteilten Menschenkinde Schutz gewähren vor Rückfall, ihm eine 
Stütze sein, Rat geben zu weiterem ehrlichen Fortkommen. Eine solche Schutz—
	        
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