Was man beim Staubwischen lernen kann. 
79 
Ich nehme es dir aber gar nicht übel, denn Selbstbeherrschung lernt man 
eben nicht aus der lateinischen Grammatik — und ihr armen Mannsleut 
habt ja vor lauter Bücherlesen gar nicht Zeit, an eurer Fortbildung zu arbeiten.“ 
Fritz fühlt sich getroffen, er möchte nicht gerne weitere Beweise seiner Unbildung 
liefern, sondern die Ehre seiner lateinischen Grammatik retten und sagt: 
„Selbstbeherrschung soll man nicht aus meiner Grammatik lernen können? 
Da, auf Seite 23 steht extra die Geschichte von Mucius Scävola, der seine 
Hand langsam am Kohlenbecken verbrennen ließ. Das bekommst du doch 
nicht fertig, so etwas — da möchte ich dein Geschrei hören.“ 
Gertrud schluckte diesen letzten Ausfall hinunter und sagte nur: „Sag' 
mal, Fritz lernst du zwanzigmal hintereinander Klimmziehen am Reck dadurch, 
daß du in der Zeitung liest, Moritz Schulze in Nürnberg habe das fertig 
gebracht und den Preis dafür bekommen? Nein, üben mußt du es selber 
täglich, und das Reck benutzen oder den Türbalken und mit dem Kleinsten an— 
fangen — und so weiter. Meine Worte waren noch lange kein brennendes 
Kohlenfeuer für dich, und doch konntest du sie nicht aushalten, ohne laut 
aufzubrüllen. Ich meine eben, da liegt eure Unwissenheit trotz all eurer Ge— 
lehrsamkeit: Ihr wißt gar nicht Bescheid über das Allerwichtigste, nämlich, 
wie man es anstellen muß, sich da fortzubilden, wo man am meisten Bildung 
nötig hat — in der Liebe, Geduld und Selbstbeherrschung. Du lächelst so 
milde auf mein Staubwischen herab — aber ich sage dir, ich bilde mich beim 
Staubwischen fort, es ist für mich eine Muskelübung in der Selbstbezwingung, 
genau so wie das Reck für den Turner das notwendige Übungsgerät ist und 
nicht die lateinische Grammatik. Euer Wissen ist gewiß auch schön und gut — 
aber die wichtigste Bildung gibt es nicht, und wer das nicht weiß, der ist un— 
wissend trotz allem Wissen. Entschuldige die lange Rede.“ 
Fritz entschuldigte es gerne; er ist im Grunde ein guter Kerl und hat 
nur bisher irrtümlich gemeint, der Mensch bilde sich um so mehr, je mehr er 
wisse, und alle Handarbeit sei eigentlich erniedrigend und verdummend. Er 
ist nun aber neugierig geworden und will mehr hören. „Ja, wie meinst du 
denn das aber mit der Fortbildung beim Staubwischen?“ „Mach mit mir 
einen Rundgang durchs Zimmer,“ antwortete sie, „dann will ich dir zeigen, 
wie merkwürdig bildend der rechte Umgang mit dem Staublappen ist.“ 
„Schau, gleich beim Beginn des Staubwischens merke ich so recht deutlich, 
daß ein bequemer und ein ungeduldiger Mensch in mir steckt. Wenn's nur auf 
die Hand ankäme, sie würde gleich erlahmen und nur so achtlos hinwischen über 
alles. Da gebraucht's gute Gedanken und Willenskraft, daß man sich selber in 
Zucht nimmt und mit dem Tuch in jeden Winkel und zwischen all die Holz— 
verzierungen hineinfährt. Ihr meint, nur ihr tätet geistige Arbeit? Nein, jede 
Handarbeit ist geistige Arbeit, wenn die Hand durch Nachdenken, Geduld uͤnd 
Sorgfalt geleitet wird — lauter Dinge, von denen die blöße Hand nichts ver— 
steht. Kennst du das Wort: Wer im geringsten treu ist, der ist auch im großen 
treu? Dieses Wort sagt uns doch gerade, wie alle Fortbildung in den aller— 
höchsten Dingen und für die größten Aufgaben des Lebens anfangen muß 
mit solchen kleinsten und unscheinbarsten Verrichtungen und Übungen — daher 
du denn auch nicht immer meinen mußt, Staubwischen habe es nur mit dem 
Staube zu tun und mit den Möbeln und nicht am meisten vielleicht mit dir selber. 
Wer jenes Wort von der Treue im Herzen trägt und damit überall 
seine Finger regiert, der bildet sich geistig, denn er arbeitet ja dahin, daß all 
sein Tun vom Geist geformt und bewacht werde — und so kann er ein wahr— 
haft beseelter Mensch werden, auch wenn er gar keine gelehrten Bücher ver—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.