Anhang.
Vorstehende grammatische Regeln gelten wie die metrischen nur
für einen kleinen Teil der mittelhochdeutschen Litteratur, nämlich für
die Meisterwerke der Dichter von ungefähr 1190-—1260. Die Prosa
und die späteren Dichter zeigen eine immer mehr davon abweichende
Sprachform. Die sogenannte höfische Sprache deckt sich mit keinem
der gleichzeitigen Dialekte, sondern meidet alle einem einzelnen Dialekt
eigentümlichen Formen; auch einzelne prosaische Schriften sind frei von
hervorstechenden mundartlichen Merkmalen, die meisten verraten aber
deutlich die (tegend ihrer Entstehung. Von etwa 1300 ab war es nicht
mehr möglich, in einer Sprache zu schreiben, die allen oberdeutschen
Dialekten gleichmässig Rechnung trüge, da sich nun die südöstlichen
Gegenden in Hunderten von Worten scharf vom Südwesten zu scheiden
begannen. Östlich sagte man z. B. weib, haus, leüle, westlich wb,
hüs, lüte. Erst als die ersteren Formen weit nach Norden und Westen
hin sich Geltung verschafft hatten, konnte man daran denken eine ein-
heitliche Sprache anzustreben. Durch lange Bemühungen, durch das
ganze fünfzehnte Jahrhundert hindurch, wurde die Grundlage für die
neue Sprachform geschaffen, die in Luthers Schriften zum erstenmal
bewunderungswürdig gehandhabt fast in ganz Deutschland und in allen
Kreisen Eingang fand. Ganz durchgedrungen ist Luthers Sprache nie,
aber die Sprachform, die seit Lessing, Schiller und Goethe über das
ganze deutsche Sprachgebiet hin herrscht, hat sich auf ihr aufgebaut.
Sie steht den heutigen Mundarten noch ferner als die höfische Sprache
der Minnesänger den mittelalterlichen, hat aber auch einem viel grösseren
Gebiete zu dienen als jene, und zeigt doch in Einzelnheiten Auknüp-
fungen bald an diese bald an jene ober- und mitteldeutsche Mundart.
Das heutige Alemannische steht dem Mittelhochdeutschen noch am
nächsten.