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Der Schneider von Gastcin.
(Erzählungen von Karl Stöber. 1841. I. Seite 246-253, 261-282, 290-298.)
dem Wildbad Gasten: gibt es gar viel Ungewöhnliches und Auf¬
fallendes, besonders für Leute, welche wie wir, der Erzähler und sein Freund,
aus dem Hügellande an der Altnmhl hinauf kommen. Ich will nur einer
Merkwürdigkeit, welche so manchem wißbegierigen und sorgfältigen Beobach¬
ter entgangen ist, erwähnen, nämlich der wandernden Schneider in den
Tauern,* über welche ich während meines Aufenthaltes in diesem Hoch¬
gebirge zuverläßige Nachrichten eingezogen habe.
Wer sich ',als Schneider in den Tauern sein Stücklein Brot verdienen
will, braucht nicht erst in Paris Meister zu werden. Hat er vollends ein
Jahr in Salzburg als Altgeselle gearbeitet, so kann er auch seinen Pfarr-
herrn mit den nöthigen Kleidern versehen. Der Kleidcrmacher in diesen
Bergwinkeln weiß nichts von der Mode, und kommt nicht aus der Mode,
wie so viele seiner Collegen auf dem ebenen Lande. Auch braucht er feine
Werkstätte: mit einer guten Schere und einem Dutzend Schwabacher Nadeln
in der Tasche, wandert er von Hof zu Hof und von Ort zu Ort, ißt und
schläft bei seinen Kunden, bildet ein Glid ihrer Familien, bis er mit der
Arbeit fertig ist, und setzt dann mit einigen verdienten Groschen im Beutel
seinen Wanderstab weiter. Dieser Wanderstab ist von einem gewöhnlichen
Stecken nur dadurch verschieden, daß die Drittel und Viertel der Landeselle
an demselben mit Einschnitten bezeichnet sind. Das Richtmaß dazu ist die
erste beste Elle in einem Kramladen und der Stempel Treu und Glauben,
wie sie noch in diesen Thälern gefunden werden.
Ist ein solcher wandernder Kleidermacher nicht mehr als ein bloßer
Schneider in seinem Geschlecht, so führt er entweder grämlich und stumm
seine Nadel, oder er kramt vor seinen Kunden die Neuigkeiten aus, die er
da und dort, wahr oder falsch, an: rechten oder unrechten Ende aufgeklaubt
hat. Ist er aber mehr als ein bloßer Schneider, hat er ein von dem Geiste
Gottes belehrtes und beseeltes Herz, und Lippen, welche von diesem Geiste
übergehen und aus dem Schatze manigfacher Erfahrungen reden, dann ist
er eine wahre Wolthat in seinem Revier, für die Kinver ein Lehrer, für
die erwachsene Jugend ein Prediger, für Männer und Frauen ein Berather
und Tröster. Ja, wenn ich als Seelenhirte in einem Sprengel lebte, wo
die einzelnen Höfe und Häuser so weit auseinander lägen, wie in dem
Hochgebirge, und das Glück hätte, einen solchen werthen Mann unter
* Tauern find die Salzburger und Kärntner Alpe«.