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wollte auch den Knaben töten, aber seine Schwester Elektra, die älter war
als er, versteckte ihn und schickte ihn mit einem treuen Diener weg nach
dem Lande Phokis, zu einem Gastfreunde ihres Vaters, der hieß Stro—
phios. Strophios hatte einen Sohn, namens Pylades; mit dem ward
Orestes erzogen und lernte alles zugleich mit ihm; die Knaben hatten sich
herzlich lieb; beide waren groß, stark und tapfer.
Als Orestes erwachsen und ein großer Jüngling war, ging er nach
Delphi und fragte das Orakel, was er tun solle, um das Keich seines
Vaters wieder zu erlangen. Das Orakel gebot ihm, er solle den Tod seines
Vaters rächen an Klytämnestra und ägisthos, und das solle er ohne ein
heer ausführen; er müsse aber List gebrauchen. Da machte er sich auf
nach Mykenä, und sein treuer Pylades begleitete ihn und der alte Diener,
der ihn als Knaben zu Strophios gebracht hatte. Orestes und Pynlades
versteckten sich vor der Stadt in einem Grabmale; und der alte Diener,
den kein Mensch mehr kannte, kam in den Palast als fremder Keisender
und erzählte Klytämnestra und ägisthos, daß Orestes bei einem Wagen—
rennen zu Delphi mit seinem Wagen umgeworfen und gestorben sei. Das
glaubten sie, und die Mutter Klytämnestra war so böse, daß sie sich dar—
über freute: denn ihr Gewissen sagte ihr, daß sie es verdient, von ihrem
Sohne als Mörderin seines Vaters umgebracht zu werden. Und sie und
ägisthos wollten ein Fest feiern, daß sie nun keine Rache mehr zu be—
fürchten hätten. Darauf kamen auch Orestes und Pylades zur Stadt
und verlangten den König und die Königin zu sprechen, um ihnen noch
mehr von Orestes' Tode zu erzählen. Und wie sie zu hnen gelassen
waren, erstachen sie alle beide.
Obwohl aber Orestes auf Befehl des Orakels seine Mutter umge—
bracht hatte, so konnten ihn doch Apollon selbst und Athene nicht gegen
die Eumeniden schützen. Die Eumeniden waren schreckliche Göttinnen,
die mit Schlangen kamen und brennenden Fackeln. Und als Orestes sie sah,
geriet er in eine entsetzliche Angst und floh; die Eumeniden aber verfolgten
ihn immer; aber Pylades verließ den unglücklichen Orestes nicht und teilte
all sein Elend mit ihm.
2. Iphigenia.
Orestes und Pylades kamen auch zu den Taurern, die auf einer
halbinsel im Schwarzen Meere wohnten. Die Taurer waren ein wildes
und grausames Volk, das alle Fremden, die zu ihnen kamen, der Artemis
opferte. Es kamen aber wenige freiwillig; viele wurden durch Schiff—
bruch an ihre Küste geworfen; denn im Schwarzen Meer sind heftige
Stürme, und die Schiffahrt ist gefährlich.
Orestes und Pylades wurden zu der Priesterin der Artemis gebracht,
die sie opfern sollte. Als die Priesterin sah, daß sie Griechen waren,