Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen von Gymnasien und Realschulen

27. Karl der Große als Bildner seines Volkes. 125 
Umdrängt von den Jüngeren stand der große Gelehrte Alkuin, 
der in der Akademie Flaccus hieß, ein Angle aus Northumberland, 
der seit 782 die Hofschule eingerichtet hatte, er, der Vater aller 
Wissenschaft und Kunst am Hofe, der ehrlichste Freund, der beste 
Lehrer, dem auch des Königs Geist bei jeder Lehrfrage sich willig 
unterordnete. Gerade jetzt war er aus England zurückgekehrt, 
wo ihn die Heimatliebe einige Jahre festgehalten, und der König 
hatte ihn zum Abt des reichen Klosters von Tours gemacht. 
Don einer Zahl würdiger Schüler begleitet, war der würdige Herr 
zu Hofe gekommen, nicht nur um über die Verse des jüngeren 
Geschlechtes zu richten, auch als Rathgeber des Königs in Kirche 
und Schule. Hochverehrt war sein ehrliches, ernsthaftes Wesen, 
seine Schüler — und fast das ganze jüngere Geschlecht des Hofes ge¬ 
hörte dazu — achteten ihn wie einen Vater. Und der selbstlose Mann, 
der jedem seiner Zöglinge die wärmste Theilnahme bewahrte, nahm 
auch die Rechte eines Vaters in Anspruch, wo es ihm nöthig 
schien. Er warnte, bat und strafte in seinen Briefen, selbst die 
Söhne des Königs und vornehme Hofleute. Groß war seine 
Korrespondenz mit Geistlichen und Laien, sogar gegen den König 
übte er ehrfurchtsvoll die Pflicht eines mahnenden Freundes. Der 
vielleicht gerade mit ihm sprach, war. sein talentvoller Schüler, der 
ritterliche Angilbert, aus vornehmem Geschlecht, seit seiner Kindheit 
am Königshofe erzogen, an diesem poetischen Hofe die edelste 
Dichtergestalt, dem Karl selbst' den akademischen Namen Homer 
gegeben hatte, weil er daran arbeitete, die Thaten des großen 
Königs in einem lateinischen Epos zu besingen, von dem uns nur 
ein Bruchstück erhalten ist, — das beste, was die Kunst des Hofes 
geschaffen hat. Neben ihm ragte die hohe Gestalt eines Fremden 
mit ergrauendem Haare, es war der Ostgothe Theodulf, den Karl 
aus Italien mitgebracht und zum Abte von Fleury, dann zum 
Bischof von Orleans gemacht hatte; er war ein Mann von Welt, 
berühmt als Dichter und Gelehrter,"gefürchtet, wegen seiner scharfen 
Distichen, mit Angilbert eng befreundet; in der Akademie hatte 
ev sich, seinen Namen übersetzend, den Dichternamen Lupus ge¬ 
geben. Wer aber ist der kleine Herr, der geschäftig hin und her 
^äuft wie eine Ameise, bald Bücher und Schriftrollen in das 
Zimmer des Königs trägt, immer höflich, einer der jüngsten im 
Kreise, mit schönen klugen Augen und freundlichem Antlitz, das 
einen feinen klaren Geist verkündet? Er hat viele Namen, er 
^ißt Beseleel, nach dem Erbauer der Stiftshütte, die Genossen 
Akademie aber nennen ihn im Scherze Nardulus, den kleinen
	        
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