Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen von Gymnasien und Realschulen

6. Der Schildbürger große Thorheit. 
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und tragen. Aber mit unserm selbsteigenen Schaden müssen wir 
Narren klug werden." 
„Diesem," sagte ein anderer Schildbürger, „ist Rath zu schaffen 
und zu helfen, ehe eine blinde Katze ein Aug' aufthut. Wer sie 
hinabgethan hat, der kann sie auch wieder Hinaufthun. Darum, 
welcher mit mir daran ist, der mache ein Eselsohr; wir wollen die 
Lenden dahinter spannen und alle Hölzer wiederum hinauf schürzen, 
so können wir sie noch alsdann fein allgemach lassen hinunter 
rollen, da wir dann mit Zusehen unsere Lust haben und also für 
unsere gehabte Mühe entschädigt werden." 
Dieser Rath gefiel ihnen allen über die Maßen sehr wohl, 
machten alle Eselsohren und schämten sich immer einer vor dem 
andern, daß er nicht so witzig gewesen. Jedoch freueten sie sich 
insgemein, daß sie ihrer angelegten Thorheit und angenommenen 
Narrheit eine anfängliche Probe ablegen sollten. 
Darum machten sie sich wieder an die Hölzer und schoben 
den Rücken dahinter; und hatten sie zuvor, als sie solche den 
Berg hinab brachten, unsägliche Mühe und unglaubliche Arbeit 
gehabt, so hatten sie ihrer jetzund. gewiß dreimal mehr, bevor sie 
wieder hinauf gebracht waren, zumal sie sich schon zuvor also ab¬ 
gearbeitet und abgemattet hatten, daß sie kaum mehr vermochten; 
wären lieber ins Wirthshaus gegangen. Zuletzt brachten sie die 
Hölzer alle wieder auf den Berg; nur das eine nicht, welches sie 
nur halb hinabgezogen hatten, dieweil dieses schon von selbst 
hinunter gelaufen war. Nachdem sie sich nun eine Weile ver¬ 
schnauft, ließen sie dieselben fein allgemach hinaborgeln, immer 
eins nach dem andern; sie aber standen droben, sahen zu und 
ließen sich's Wohlgefallen. Hiermit war ihr Herz und Muth zu¬ 
frieden gestellt, und das erste Muster oder Probestück ihrer Narr¬ 
heit gegeben. Welcher Ursache halber, und weil es ihnen das erste 
Mal so wohl gelungen war, sie ganz fröhlich heimzogen, sich ins 
Wirthshaus setzten, und weil sie ein gemeines Werk gethan, auch 
billig ein großes Loch ins gemeine Gut fraßen. 
Wo der nur das gemeine Gut 
Verzehrt, der fürs Gemeine thut. 
Da mag er selber köstlich leben 
Und dennoch niemand Schaden geben. 
Wird aber solches Gut verzehrt 
Von denen, die es nie gemehrt. 
Noch je geholfen zu erhalten, 
So muß wohl alles llnglück walten.
	        
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