Full text: Deutsches Lesebuch für die mittleren Klassen von Gymnasien und Realschulen

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6. Der Schildbürger große Thorheit. 
2) Wie die Schildbürger ihr Rathhaus aufgeführt und die Fenster 
vergessen haben. 
Nachdem das Bauholz gemeldeter Maßen herbeigeführt und 
gezimmert worden, auch alles zu ihrem Rathhause noch ferner 
Gehörige, als Stein, Sand, Kalk und dergleichen, vorhanden und 
in Bereitschaft war, fingen die Schildbürger ihren Bau einhellig- 
lich mit solchem Eifer an, daß, wer es nur immer sah, sagen 
mußte, daß es ihr bittrer Ernst wäre. Hatten also in wenig 
Tagen, seit sie nach der Narrheit Verlangen getragen, die drei 
Hauptmauern (indem sie etwas Besonderes haben und das Haus 
dreieckig bauen wollten) aus dem Grunde heraufgeführt, die Bal¬ 
ken gelegt und so weit alles vollendet. An einer Seite hatten sie 
ein großes Thor gelassen, um das Heu, welches der Gemeinde zu¬ 
ständig war und sie insgemein zu vertrinken hatten, hineinzuführen. 
Welches denn ihrem Herrn, dem Schultheißen, wiewohl sie darauf 
nicht bedacht gewesen, auch wohl bekam; indem er, wäre solche 
Luke nicht da gewesen, wenn er'in den Rath gehen wollen, sammt 
seinen Gerichts- und Rathsherrn übers Dach hätte einsteigen 
müssen; welches zwar ihrer Narrheit gemäß genug, aber sehr un¬ 
bequem, und wegen der Juppen, die sie darüber zerrisien hätten, 
desgleichen auch wegen der Beine, so sie gelegentlich abfallen mögen 
(sonderlich, wenn sie den nächtigen Schlemm oder Trunk noch nicht 
verdaut und ausgeschlafen), sehr schädlich gewesen wäre. Dem¬ 
nächst gaben sie sich an das Dach, welches nach des Baues dreien 
Ecken abgetheilt war, und setzten den Dachstuhl auf die Mauern, 
vermeinend, hiermit das ganze Werk bis auf das Decken vollendet 
zu haben. Worauf sie wohlgemuth in das Haus zogen, wo der 
Wirth den Arm mit einem grünen Kranze herausstreckt und die 
Gäste oft uneingeseift schiert, und aufs gemeine Gut hin, dieweil 
es ein gemeines Werk, abermals tapfer einschenken ließen, in Ab¬ 
sicht, das Dach, ob sie schon noch Zeit genug dazu gehabt hätten, 
folgenden Tages zu decken, damit sie wieder ein gemeinsames 
Werk und somit ein gemeines Gefräß hätten. „Wirth, schenk' ein, 
der Schildbürger trinkt, der Schildbürger trinkt!" 
Folgenden Tages , als mit der Glocke das Zeichen gegeben 
worden, vor welchem niemand kommen und arbeiten durfte, kamen 
sie insgemein wieder zusammen, stiegen auf den Dachstuhl, und 
singen an das Rathhaus zu decken. Zu dem Ende stunden sie 
alle hinter einander, etliche zu oberst auf dem Dache, andere besser 
hinab, auch noch aus den Latten, etliche auf der Erde zunächst an 
der Leiter, andere weiter davon, und sofort bis zum Ziegelhaufen,
	        
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