62 12. Tod der alten Grossmutter Katharina Rudi.
Der Rudi bebt, zittert, nimmt seine Kappe ab, fällt auf
seine Kniee vor dem Bette seiner Mutter, faltet die Hände,
hebt die Augen auf gen Himmel und kann vor Thränen und
Schluchzen nicht reden.
Dann sagte die Mutter: „Fasse Muth, Rudi, zu hoffen
aufs ewige Leben, wo wir uns wiedersehen werden. Der Tod
ist ein Augenblick, der vorübergeht, ich fürchte ihn nicht. Ich
weiss, dass mein Erlöser lebt, und dass er, mein Erretter, wird
über meinem Staube stehen; und nachdem sich meine Haut
wiederum wird über das Gebein gezogen haben, alsdann werde
ich in meinem Fleische Gott sehen. Meine Augen werden ihn
sehen und nicht einen andern.“
Der Rudi hatte sich erholt und sagte: „So gib mir Deinen
Segen, Mutter; wilPs Gott, komme ich Dir auch bald nach
ins bessere Leben.“
Und dann die Mutter: „Erhöre mich, Vater im Himmel,
und gib Deinen Segen meinem Kinde, dem einzigen, das Du
mir geschenkt hast und das mir so innig lieb ist! Rudi,
mein Gott und mein Erlöser sei mit Dir, und wie er Isaak
„ und Jacob um ihres Vaters Abraham willen Gutes gethan hat,
ach, so möge er auch um meines Segens willen Dir Gutes thun
die Fülle, dass Dein Herz sich wieder erfreue und frohlocke
und seinen Namen preise! — Höre mich jetzt, Rudi, und thue,
was ich sage. Lehre Deine Kinder Ordnung und Fleiss, dass
sie in der Armut nicht verlegen, unordentlich und liederlich
werden. Lehre sie auf Gott im Himmel vertrauen und bauen
und Geschwister an einander bleiben in Freude und Leid, so
wird es ihnen auch in ihrer Armut wohl gehen. Verzeihe
auch dem Vogt, und wenn ich todt und begraben sein werde,
so gehe zu ihm hin und sage ihm, ich sei mit einem versöhn¬
ten Herzen gegen ihn gestorben, und ¿wenn Gott meine Bitte
erhöre, so werde es ihm wohl gehen, und er werde noch zur
Erkenntnis seiner selbst kommen, ehe er von hinnen scheiden
werde.“ Nach einer Weile sagte dann die Mutter wieder:
„Rudi, gib mir meine zwei Bibeln, mein Gebetbuch und eine
Schrift, die unter meinem Halstuche in einem Schächtelchen
liegt.“
Und Rudi stand von seinen Knieen auf und brachte alles
der Mutter.
Da sagte sie: „Bringe mir jetzt auch die Kinder alle.“
Er brachte sie vom Tische, wo sie sassen und weinten,