Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberklassen höherer Mädchenschulen

Gotthold Ephraim Lessing. 
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innere Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrschein— 
lichkeit von gar keinen Zeugnissen und überlieferungen bestätiget wird oder 
von solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird 
ohne Grund angenommen, daß es eine Bestimmung des Theaters mit sei, 
das Andenken großer Männer zu erhalten; dafür ist die Geschichte, aber nicht 
das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener 
einzelne Mensch gethan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem gewissen 
Charakter unter gewissen gegebenen Umständen thun werde. Die Absicht der 
Tragödie ist weit philosophischer, als die Absicht der Geschichte; und es heißt 
sie von ihrer wahren Würde herabsetzen, wenn man sie zu einem bloßen 
Panegyhrikus berühmter Männer macht, oder sie gar den Nationalstolz zu 
nähren mißbraucht. 
b. Die tragische Dichtung und der geschichtliche Charakter. 
Den 4. Junius ward der Graf von Essex vom Thomas Corneille auf— 
geführt. 
Dieses Trauerspiel ist fast das einzige, welches sich aus der beträchtlichen 
Anzahl der Stücke des jüngern Corneille auf dem Theater erhalten hat. 
Der Herr von Voltaire hat den Essex auf eine sonderbare Weise kri— 
isiert. Ich möchte nicht gegen ihn behaupten, daß Essex ein vorzüglich gutes 
Stück sei; aber das ist leicht zu erweisen, daß viele von den Fehlern, die er 
daran tadelt, teils sich nicht darin finden, teils unerhebliche Kleinigkeiten sind, 
die seinerseits eben nicht den richtigsten und würdigsten Begriff von der Tra— 
dödie voraussetzen. 
Es gehört mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, daß er 
tin sehr profunder Historicus sein will. Er schwang sich also auch bei dem 
Esser auf dieses sein Streitroß und tummelte es gewaltig herum. Schade nur, 
daß alle die Thaten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht wert sind, den 
er erregt. 
Thomas Corneille hat ihm von der englischeu Geschichte nur wenig ge— 
wußt; und zum Glücke für den Dichter war das damalige Publikum noch 
unwissender. 
Jetzt, sagt er, kennen wir die Königin Elisabeth und den Grafen Essex 
besser; jetzt würden einem Dichter dergleichen grobe Verstoßungen wider die 
historische Wahrheit schärfer aufgemutzt werden. 
Und welches sind denn diese Verstoßungen? Voltaire hat ausgerechnet, daß 
ie Königin damals, als sie dem Grafen den Prozeß machen ließ, achtundsechzig 
Jahre alt war. Es würe also lächerlich, sagt er, wenn man sich einbilden 
wollte, daß die Liebe den geringsten Anteil an dieser Begebenheit könne gehabt 
haben. Warum das? Geschieht nichts Lächerliches in der Welt? Sich etwas 
Lächerliches als geschehen denten, ist das so lächerlich? „Nachdem das Urteil
	        
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