Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberklassen höherer Mädchenschulen

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Goethe. 
burg vor, gezeichnet, um von verschiedenen Seiten anschaulich zu machen, wie 
der mächtige Trutz- und Schutzbau von alten Zeiten her dem Jahr und seiner 
Witterung sich entgegenstemmte, und wie doch hie und da sein Gemäuer weichen, 
da und dort in wüste Ruinen zusammenstürzen mußte. Nun haben wir 
manches gethan, um diese Wildnis zugänglicher zu machen; denn mehr bedarf 
es nicht, um jeden Wanderer, jeden Besuchenden in Erstaunen zu setzen, zu 
entzücken. 
Indem nun der Fürst die einzelnen Blätter deutete, sprach er weiter: Hier, 
wo man, den Hohlweg durch die äußern Ringmauern heraufkommend, vor die 
eigentliche Burg gelangt, steigt uns ein Felsen entgegen von den festesten des 
ganzen Gebirgs; hierauf nun steht gemauert ein Turm, doch niemand wüßte zu 
sagen, wo die Natur aufhört, Kunst und Handwerk aber anfangen. Ferner 
sieht man seitwärts Mauern angeschlossen und Zwinger terrassenmäßig herab sich 
erstreckend. Doch ich sage nicht recht, denn es ist eigentlich ein Wald, der diesen 
uralten Gipfel umgibt; seit hundertundfünfzig Jahren hat keine Axt hier 
geklungen, und überall sind die mächtigsten Stämme empor gewachsen; wo ihl 
euch an den Mauern andrängt, stellt sich der glatte Ahorn, die rauhe Eiche, 
die schlanke Fichte mit Schaft und Wurzeln entgegen; um diese müssen wir uns 
herumschlängeln und unsere Fußpfade verständig führen. Seht nur, wie trefflich 
uͤnser Meister dies Charalteristische auf dem Papier ausgedrückt hat, wie kenntlich 
die verschiedenen Stamm-⸗ und Wurzelarten zwischen das Mauerwerk verflochten 
und die müächtigen Üste durch die Lücken durchgeschlungen sind. Es ist eine 
Wildnis wie keine, ein zufällig-einziges Lokal, wo die alten Spuren längst 
verschwundener Menschenkraft mit der ewig lebenden und fortwirkenden Natur 
sich in dem ernstesten Streit erblicken lassen. 
Ein anderes Blatt aber vorlegend fuhr er fort: Was sagt ihr nun zum 
Schloßhofe, der, durch das Zusammenstürzeu des alten Thorturmes unzugänglich⸗ 
seit undenklichen Jahren von niemand betreten ward? Wir suchten ihm von 
der Seite beizukommen, haben Mauern durchbrochen, Gewölbe gesprengt, und 
so einen bequemen, aber geheimen Weg bereitet. Inwendig bedurft es keines 
Aufräumens; hier findet sich ein flacher Felsgipfel von der Natur geplättet, 
aber doch haben mächtige Bäume hie und da zu wurzeln Glück und Gelegenheit 
gefunden; sie sind sachte, aber entschieden aufgewachsen, nun erstrecken sie ihre 
Üfte bis in die Galerieen hinein, auf denen der Rilter sonst auf und ab schritt, 
jg durch Thüren durch und Fenster in die gewölbten Säle, aus denen wir sie 
nicht vertreiben wollen; sie sind eben Herr geworden und mögens bleiben. 
Tiefe Blätterschichten wegräumend, haben wir den merkwürdigsten Platz g— 
ebnet gefunden, dessen gleichen in der Welt vielleicht nicht wieder zu sehen ist. 
Nach allem diesem aber ist es immer noch bemerkenswert und an Ort und 
Stelle zu beschauen, daß auf den Stufen, die in den Hauptturm hinauf führen, 
ein Ahorn Wurzel geschlagen und sich zu einem so tüchtigen Baume gebildet
	        
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