Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberklassen höherer Mädchenschulen

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Friedrich Schleiermacher. 
deshalb nicht zu bedauern sind, sondern glücklich zu preisen, daß, je werter uns 
die Unsrigen sind, um desto mehr wir auch alles Große und Ruhmvolle ihres 
Berufes mit empfinden und uns aneignen sollen! Laßt uns, je mehr wir sie 
lieben als uns selbst, um desto mehr, eben wie wir uns selbst dem Vaterlande 
mit Leib und Leben hingeben würden, wenn es uns riefe, so auch sie demselben 
von ganzem Herzen darbringen und weihen! Manches teure Blut wird fließen, 
manches geliebte Haupt wird fallen: laßt uns nicht durch zaghafte Trauer, 
durch weichlichen Schmerz das ruhmvolle Los verkümmern, sondern dahin 
sehen, daß wir der großen Sache würdig grün bleiben und frisch; laßt uns 
bedenken, wie viel glücklicher es ist, das Leben zum Opfer darbringen in dem 
edlen Kampf gegen diese zerstörenden Gewalten als im ohnmächtigen Kampf 
ärztlicher Kunst gegen die unerkannte Gewalt der Natur. Und die liebende 
Sorge, die wir alle gern, wenn wir könnten, den Unsrigen reichen würden in 
Krankheiten und Verwundungen, laßt sie uns ganz gemeinschaftlich machen, wie 
die Sache gemeinsam ist; laßt uns sorgen und dienen, wo wir können, des festen 
Vertrauens, daß es ebenso den Unsrigen an zärtlicher Pflege und Behandlung 
von ähnlich Gesinnten nicht fehlen wird! Vor allem aber laßt uns sorgen, daß 
die wohlverdiente Ehre derer nicht untergehe, die sich diesem heiligen Kampfe 
weihen. Die Not und Entwürdigung der vergangenen Jahre und das herr— 
liche geistige Erstehen des Vaterlandes in diesen Tagen laßt uns, wie wir selbst 
ganz davon ergriffen sind, auch den Gemütern des unter uns aufwachsenden 
Geschlechtes auf das tiefste einprägen, daß dieser ewig denkwürdigen Zeit auch 
wirklich gedacht werde, wie sie es verdient, und jeder Nachkomme, den es trifft, 
mit würdigem Stolz sagen möge, da kämpfte oder da fiel auch einer von den 
Meinigen. 
Ich rede weiter im Gegensatz zu denen, die das Vaterland draußen ver⸗ 
teidig· von denen, die es innen ordnen, leiten und die mancherlei 
Dien? die es fordert, versehen sollen Möge diese große entscheidende Zeit 
sie aa verdoppelter Treue und Sorgfalt erwecken, zu verdoppeltem Abscheu 
vor inneren Verwahrlosung durch Trägheit und Unordnung — denn ich 
will n sagen durch Eigennutz und Untreue — während draußen Blut und 
Leben „Bürger dargeboten wird, als vör dem schändlichsten Verrat an eben 
diesem Dlut und an allen Tugenden, die es opfern. Mögen sie bedenken, daß 
alle Kräfte gewissenhaft müssen angewendet, alle Zweige des gemeinen Wesens 
treu verwaltet werden, wenn das große Werk gelingen soll. Vor allem mögen 
sie bedenken, daß die Kämpfenden, wenn ihr Mut ausharren soll, in der Kraft 
und Weisheit der Verfassung und Verwaltung die Gewährleistung sehen wollen 
für die höheren Güter, um derentwillen sie kämpfen. Darum wolle ja nie— 
mand unter uns sich für weise halten, wo er es nicht ist; niemand sich zum 
größten Nachteil des gemeinen Wesens an einen Platz drängen, den er nicht 
auszufüllen vermag; niemand sich durch Vorurteile der Freundschaft verblenden
	        
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