Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberklassen höherer Mädchenschulen

Das Nibelungenlied. 
69 
„Nun schauet, Freund Hagen, wie sie dorther naht, 
Die uns ohne Treue ins Land geladen hat. 
Ich sah mit einer Königin nie so manchen Mann 
Die Schwerter in den Händen also streitlustig nahn. 
Da sprach im Zornmute Hagen der kühne Mann: 
„Ich weiß wohl, das wird alles wider mich gethan, 
Daß sie die lichten Waffen tragen an der Hand; 
Vor denen aber reit ich noch in der Burgunden Land. 
„Nun sagt mir, Freund Volker, denkt ihr mir beizustehn, 
Wenn mit mir streiten wollen die in Kriemhilds Lehn? 
Das laßt mich vernehmen, so lieb als ich euch sei. 
Ich steh euch mit Diensten immer wieder treulich bei.“ 
„Sicherlich, ich helf euch,“ so sprach da Volker: 
„Und säh ich uns entgegen mit seinem ganzen Heer 
Den König Etzel kommen, all meines Lebens Zeit 
Weich ich von eurer Seite aus Furcht nicht eines Fußes breit.“ 
„Nun lohn euch Gott vom Himmel, viel edler Volker! 
Wenn sie mit mir streiten, wes bedarf ich mehr? 
Da ihr mir helfen wollet, wie ich jetzt vernommen, 
So mögen diese Recken fein behutsam näher kommen.“ 
„Stehn wir auf vom Sitze,“ sprach der Fiedelmann, 
„Vor der Königstochter, so sie nun kommt heran. 
Bieten wir die Ehre der edeln Königin! 
Das bringt uns auch beiden an eignen Ehren Gewinn.“ 
„Nein! wenn ihr mich lieb habt,“ sprach dawider Hagen. 
„Es möchten diese Degen mit dem Wahn sich tragen, 
Daß ich aus Furcht es thäte und dächte wegzugehn: 
Von dem Sitze mein ich vor ihrer keinem aufzustehn. 
„Daß wir es bleiben lassen, das ziemt uns ganz allein. 
Soll ich dem Ehre bieten, der mir feind will sein? 
Nein, ich thu es nimmer, so lang ich leben soll: 
In aller Welt, was kümmr ich mich um Kriemhildens Groll?“ 
Der vermeßne Hagen legte über die Schenkel hin 
Eine lichte Waffe, aus deren Knaufe schien 
Mit hellem Glanz ein Jaspis, grüner noch als Gras, 
Wohl erkannte Kriemhild, daß Siegfried einst sie besaß.
	        
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