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II. Die mittelhochdeutsche Zeit.
A. Die mittelalterliche Epik.
1. Das Volksepos.
Die Stoffe, die in den Volksepen dargestellt sind, waren alte
deutsche Heldensagen. Diese sind verschiedenen Sagenkreisen entnommen,
deren Entstehung auf die Zeit der Völkerwanderung zurückgeht und
in denen viele altheidnische und mythologische Anklänge an die alten
urgermanischen Sagen, die lange in Vergessenheit geraten sind, erinnern.
Die Sagenkreise sind
1. der fränkische: die Sigurdsage.
Hder burgundische: Gunther und seine Brüder, Kriemhilde, Hagen.
der hunnische: Attila, Rüdeger.
der ostgotische: Ermanrich und sein Sohn Dietrich von Bern,
Hildebrand.
der langobardische: Ortnit, Hugdietrich, Wolfdietrich.
Zedes der Volksepen ist in der Form, in der es uns vorliegt,
das Werk eines Verfassers, der den in seinen großen Zügen dem ganzen
Volke bekannten Stoff in seinen Einzelheiten ausgestaltet und gruppiert
hat. Wir kennen keinen dieser Dichter mit Namen. Weil die Volks—
epen singend vorgetragen wurden, so sind sie in Strophenform gedichtet.
Aus der langen Reihe dieser Volksepen ragen das Nibelungen—
und das Gudrunlied hoch hervor.
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a) Das Nibelungenlied.
Der gewaltige Stoff, der im Nibelungenliede zur dichterischen Dar—
stellung kommt, setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen.
Im ersten Teile desselben: Siegfrieds Glück und Tod, finden wir
die Umformung eines Teiles der alten fränkischen Siegfriedsage. Es ist
uns nicht möglich, diese Sage zum Vergleich heranzuziehen, da sie nicht auf
unsere Zeit gekommen ist, wir können aber die mit ihr verwandte Sigurd—
sage, die in dem mythologischen Quellenwerk Skandinaviens, der Edda,
überliefert ist, mit dem Inhalte unseres Volksepos vergleichen (siehe Teil II,
Nr. 14, Seite 20). Wir finden in ihr vieles Mythische aus der alten
germanischen Göttersage, deren Spuren auch im Nibelungenliede noch zu
bemerken sind. Mythisch ist die Gestalt der Brunhilde, die durch einen
Zaubergürtel riesenstark gemacht, mit werbenden Helden gewaltige Wett—
kämpfe wagt, und in der wir die Walkyre Brynhilde nicht nur wegen
des Anklangs der Namen erkennen; mythisch sind ferner der Zwerg
Alberich, die weissagenden Meerweiber, endlich Siegfried, der den Drachen
getötet und nach dem Bade in dessen Blute die unverletzlich machende
Hornhaut erworben hat, der durch Besiegung der Nibelungen unermeß—
liche Schätze erlangt hat und unter diesen die Tarnkappe, die ihn un—
sichtbar macht. Das Grausame und Wilde der alten heidnischen Sage
erscheint im Nibelungenlied allerdings bedeutend gemildert.