I. Erzählungen.
1. Ein Hottopferdchm.
^s war vor langen, langen Jahren. Am Hügelabhang über dem Tigristal
stand in einer kleinen Lichtnng des Gestrüpps ein winziges Häuschen,
Fußboden und Hinterwand in die schräge Berglehne hineingearbeitet, Seiten- 5
wände und Dach aus Reisig gebaut, mit zwei Pfosten als Stützen. Vor
dem Hause aber stand ein kurzes, dunkles Weib, hielt die Hand über die
Augen und schaute nach Westen in den roten Sonnenuntergang hinaus.
Sie seufzte tief und traurig; denn aus der Ebene des Stromes, die unter
ihr lag, sah sie graue Schwaden aufsteigen, und sie wußte, was das ihr 10
bedeutete. Sonst war ihr kleiner Heth ein rundes, lustiges Bürschchen ge¬
wesen, aber seit drei Sommern, alljährlich um die Zeit, wo die Schwaden
stiegen, da wurde er unlustig; er wollte nicht essen, und sein armer Körper
zitterte oft vor Külte, während die Augen wie Feuer glühten. In diesem
Jahre brannte die Sonne heißer als je, zogen die bräunlichen Nebel dichter 15
als je, und drinnen lag der kleine Heth und wollte nimmer von seinem
Streulager aufstehen.
Gerade als sie sich wandte, um in die Hütte zurückzutreten, klang vom
Abhang ein Ruf herauf, daß sie stehen blieb; dann rauschte es auf dem
Pfade, und auf die Lichtung trat ein Mann. Ein geschabtes Fell hing ihm 20
über die Schulter, durch einen Baststreif über der nackten Brust zusammen¬
gehalten, schwarzes Haar umgab den Kopf in wilder Fülle, in der linken
Hand trug er ein sackühnlich geformtes Ziegenfell, in der rechten eine
kurze, hammerförmige Keule mit steinernem Kopf; er sah struppig und wild
genug aus, undun den Augen blitzte ihm begehrliche Kühnheit, aber daneben 25
auch ein milderes Aufleuchten, wie sein Blick auf das Weib fiel. Sie
sprang ihm eifrig entgegen und fragte: „Hast du es bekommen?"
Falk, Künoldt, Lippelt, Lesebuch für höhere Mädchenschulen. VII. Tetl. 1