28. Lessing als freund.
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Fünf Tage später heißt es:
Berlin, den 6. September 1759.
Ach, liebster Freund, es ist leider wahr. Er ist tot. Wir haben
ihn gehabt. Er ist in dem Hause und in den Armen des Professors
Nicolai gestorben. Er ist beständig, auch unter den größten Schmerzen,
gelassen und heiter gewesen. Er hat sehr verlangt, seine Freunde noch
zusehen. Wäre es doch möglich gewesen! Meine Traurigkeit über diesen
Fall ist eine sehr wilde Traurigkeit. Ich verlange zwar nicht, daß die
Kugeln einen andern Weg nehmen sollen, weil ein ehrlicher Mann dasteht.
Aber ich verlange, daß der ehrliche Mann — sehen Sie: manchmal ver¬
leitet mich der Schmerz, auf den Mann selbst zu zürnen, den er an¬
geht. Er hatte schon drei, vier Wunden; warum ging er nicht? Es
haben sich Generale mit wenigeren und kleineren Wunden unschimpflich
beiseite gemacht. Er hat sterben wollen. Vergeben Sie mir, wenn
ich ihm zu viel tue. Er wäre auch an der letzten Wunde nicht ge¬
storben, sagt man; aber er ist versäumt worden! Versäumt worden! Ich
weiß nicht, gegen wen ich rasen soll. Die Elenden, die ihn versäumt
haben! —
Ich muß abbrechen. Der Professor wird Ihnen ohne Zweifel ge¬
schrieben haben. Er hat ihm eine Standrede gehalten. Ein anderer, ich
weiß nicht wer, hat auch ein Trauergedicht auf ihn gemacht. Sie müssen
nicht viel an Kleist verloren haben, die das jetzt imstande waren! Der
Professor will seine Rede drucken lassen, und sie ist so elend! Ich weiß
gewiß, Kleist hätte lieber eine Wunde mehr ins Grab genommen, als
sich solches Zeug nachschwatzen lassen. Hat ein Professor wohl ein Herz?
Er verlangt jetzt auch von mir und Ramler Verse, die er mit seiner Rede
zugleich will drucken lassen. Wenn er eben das auch von Ihnen verlangt
hat und Sie erfüllen sein Verlangen — liebster Gleim, das müssen Sie
nicht tun! Das werden Sie nicht tun. Sie empfinden jetzt mehr, als
daß Sie, was Sie empfinden, sagen können. Ihnen ist auch nicht, wie
einem Professor, gleich viel, was Sie sagen, und wie Sie es sagen. —
Leben Sie wohl. Ich werde Ihnen mehr schreiben, wenn ich werde
ruhig sein.
Ihr ergebenster
Lessing.
Wie viele akademische Lobreden wiegt dieser tief empfundene Brief ans!
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Nach H. Löschhorii und Lessings Briefen.