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29. Aus Tagen deutscher Ilot.
Seume schritt mit seinen Begleitern durch die Nacht. Noch hoffte er,
in Ziegenhain seine Freiheit wieder zu erlangen, und war froh, daß man
ihm seine Ausweiskarte von der Universität Leipzig nicht abgenommen hatte.
In der kleinen hessischen Festung fand er eine große Zahl von Schicksals-
5 geführten. Man brachte ihn in eine Kaserne, und er traf wunderliche Ge¬
sellschaft, wie er es sich nicht hatte träumen lassen: Handwerksburschen,
verlaufene Studenten, verkommene Kaufleute, einen weggejagten Offizier und
andere mehr. Alle waren durch List oder Betrug oder Gewalt hierher ge¬
kommen, um an die Engländer verkauft zu werden, und die meisten mochten
10 sich nicht in dies Los finden. Es war ein Schimpfen und Fluchen, da¬
zwischen auch Lärmen und Lachen, und Seume war es sehr unbehaglich.
Trotzdem schlief er bald vor Müdigkeit ein; aber am andern Morgen ver¬
langte er, vor den General geführt zu werden. Einige von seinen Gefährten
lachten, andere sahen ihn mit stillem Mitleid an; aber man willfahrte ihm.
15 Der General Horn, vor den Seume kam, war ein alter Herr mit
einem gelben, faltigen Gesicht, aus dem ein mächtiger Schnauzbart starrte.
Er herrschte ihn an: „Was will Er?" „Halten zu Gnaden, Herr General,
— man hat mich in Vacha wider meinen Willen zum Rekruten gemacht,
und ich bitte um meine Freilassung." „Sonst nichts?" fragte finster der alte
20 Offizier. — „Ähnliches habe ich wohl ein paar hundertmal gehört. Warum
will Er nicht bleiben?" „Weil ich widerrechtlich festgehalten bin auf meiner
Reise nach Paris, wohin ich Studierens halber gehen wollte. Ich bin
Leipziger Student,, und hier ist meine Legitimation!"
Er reichte das Papier dem General; dieser aber, ohne es auch nur
25 anzusehen, zerriß es in Stücke, die er auf den Boden fallen ließ, und rief:
„Er ist Student gewesen — jetzt ist Er Landgräflich Hessen-Kasseler Soldat,
das merk' Er sich, und nicht gemuckst! Rechtsum kehrt!"-So kam
der junge Seume als hessischer Jäger uach Amerika.
Als 1783 der Friede geschlossen war, in dem die Vereinigten Staaten
30 ihre Freiheit erlangten, kehrten die Hessen nach Europa zurück, und ihre
Schiffe erreichten nach langer, stürmischer Fahrt die Wesermündung. Da
verbreitete sich unter der Mannschaft das Gerücht, der Landgraf habe seine
Truppen an die Preußen verkauft. Sogleich beschloß Seume zu entfliehen,
und zwei seiner Kameraden wollten sein Schicksal teilen. In Elsfleth, wo
35 die Schiffe bald darauf anlegten, wollten sie sich in der Dunkelheit von
Bord schleichen. Mehrere Nächte lagen sie ans der Lauer; aber die Wacht¬
posten paßten scharf auf, und es wollte sich keine Gelegenheit zum Ent¬
kommen bieten. Müde und verdrießlich war Seume in der dritten Nacht