Full text: Für Tertia (Abtheilung 1, [Schülerband])

Kerner: Die Stiftung von Hirschau. Müller: Der Mönch von Heisterbach. Bechsteinrc. 175 
Er stutzt — doch sieh, schon glänzt die 
Kirche hell, 
Und draus ertönt der Brüder heil'ger 
Chor. 
5. Nach seinem Stuhle eilend tritt er ein— 
Doch wunderbar — ein Andrer sitzet dort; 
Er überblickt der Mönche lange Reihn, 
Nur Unbekannte findet er am Ort. 
6. Der Staunende wird angestaunt 
ringsum, 
Man fragt nach Namen, fragt nach dem 
Begehr; 
Er sagt's — da murmelt man durchs 
Heiligthum: 
„Dreihundert Jahre hieß so Niemand 
mehr. 
7. Der Letzte dieses Namens," tönt es 
dann, 
„Er war ein Zweifler und verschwand 
im Wald; 
Man gab den Namen Keinem mehr 
fortan." 
Er hört das Wort, es überläuft ihn kalt. 
8. Er nennet nun den Abt und nennt 
das Jahr; 
Man nimmt das alte Klosterbuch zur 
Hand; 
Da wird ein großes Gotteswunder klar: 
Er ist's, der drei Jahrhunderte ver¬ 
schwand. 
9. Ha, welche Lösung! Plötzlich graut 
sein Haar, 
Er sinkt dahin und ist dem Tod geweiht, 
Und sterbend mahnt er seiner Brüder 
Schar: 
„Gott ist erhaben über Ort und Zeit. 
10. Was er verhüllt, macht nur ein 
Wunder klar. 
Drum grübelt nicht, denkt meinem 
Schicksal nach! 
Ich weiß: ihm ist ein Tag wie tausend 
Jahr, 
Und tausend Jahre sind ihm wie ein 
Tag." 
136. Elisabeths Rosen. 
Elisabeth, geb. 1207 + 1231 n. Chr. 
Bon Ludwig Bech stein. Gedichte. Frankfurt a. M., 1836. 
1. Sie stieg herab wie ein Engelsbild, 
Die heil'ge Elisabeth, fromm und mild, 
Die gabenspendende hohe Frau, 
Vom Wartburgschloß auf die grüne Au. 
2. Sie trägt ein Körbchen, es ist verhüllt; 
Mit milden Gaben ist's vollgefüllt. 
Schon harren die Armen am Bergesfuß 
Auf der Herrin freundlichen Liebesgruß. 
3. So geht sie ruhig, doch Argwohn stahl 
Durch Verräthers Mund sich zu dem 
Gemahl. 
Und plötzlich tritt Ludwig ihr zürnend nah 
Und fragt die Erschrockne: „Was trägst 
du da?" — 
4. „Herr, Blumen!" bebt's von den 
Lippen ihr. 
„Ich will sie sehen! Zeige sie mir!" 
Wie des Grafen Hand das Körbchen 
enthüllt, 
Mit duftenden Rosen ist's angefüllt. 
5. Da wird das zürnende Wort gelähmt. 
Vor der edeln Herrin steht er beschämt. 
Vergebung erflehet von ihr sein Blick, 
Vergebung lächelt sie sanft zurück. 
6. Er geht, und es fliegt ihres Auges 
Strahl 
Fromm dankbar empor zu dem Him¬ 
melssaal. 
Dann hat sie zum Thal sich herabge¬ 
wandt 
Und die Armen gespeist mit milder 
Hand. 
137. Ein Lebenslauf. 
Von Gustav Schwab. Gedichte. Stuttgart und Tübingen, 1848. 
1. In unser armes Fleisch und Blut 
Verkleidet sich das ew'ge Gut. 
2. Den aller Weltkreis nicht beschloß, 
Der liegt in einer Mutter Schooß. 
3. Spät ans der Hütte tritt hinaus 
Der Gottessohn in Vaters Haus. 
4. Glimmenden Docht, zerstoßnes Rohr, 
Er facht ihn an, richtet's empor. 
5. In Geist und Wahrheit beten heißt 
Er alles Volk zum einen Geist.
	        
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