E. Didaktisch lyrische Poesie. XVII. Elegische Gedichte.
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2 Dachte dessen jüngst der Landmann, als er hier die Garben wand,
Daß in einem Menschenherzen manche ihrer Wurzeln stand?
Denkt der Städter, wenn beim Mahle er sein weißes Brod genießt,
Daß gedüngt es mit dem Blute eines Heldenbruders ist?
3. Aus der Lava, die einst glühend vom Vesuv herniederquoll,
Blühn wie Leben aus dem Tode saft'ge Reben grün und voll;
Doch die ihren Wein einst trinken unter kühlem Laubendach,
Dem Vesuv und seinen Schrecken sinnen sie wohl schwerlich nach.
4. Hier auch hat all seine Schrecken ausgetobt einst ein Vulkan,
Blut'ge, glüh'nde Lavafluten überströmten rings den Plan,
Schwarzer Rauch und Nachtgewölke hüllte tief den Himmel ein,
Wetterschläge krachten donnernd, Blitze zuckten Flammen drein.
5. Wie dort am Vesuv die Lava einst manch heitre Stadt verschlang,
So begrub sie viel der Edeln hier die weite Flur entlang;
Hundert Städte zu beleben, g'nügte wahrlich ihre Zahl,
Und nicht minder schön glomm ihnen noch des Lebens sonn'ger Strahl.
6. Gleich an frommer Kraft und Weisheit jenem edeln Plinius,
Der dort rettend seine Mutter trug durch Nacht und Lavaguß,
Also, Karl, du hoher Sieger, trugst du kühn und glorreich da
Aus den Flammen und den Schrecken deine Mutter Anstria!
7. Manch gewaltiges Jahrhundert schritt schon am Vesuv vorbei;
Sieh, der fernsten Enkel Spaten schlägt der Lava Krust' entzwei,
Und es steigt aus Schutt und Asche eine heitre Stadt ans Licht,
Manch ein Götterbild sind Tempel, manch unsterbliches Gedicht!
8. Oestreichs Herknlanum'nenn' ich, ihr Gefilde Asperns, euch!
Wär' an edeln, heil'gen Schätzen euer Schooß wohl minder reich?
Wahrlich, stieg' in eure Tiefen rechten Sinns der rechte Mann,
Bald das Götterbild der Freiheit brächt' er uns ans Licht heran! —
9. Wallt dann wieder einst durchs weite, reiche Saatgefild mein Fuß,
O dann nickt wohl jede Aehre mit dem Haupt mir heitern Gruß;
Und wie Geisterharsen säuselt's aus den goldnen Halmen leis:
„Nicht umsonst floß unser Herzblut, denn es trug euch schönen Preis1*
233. Die Straßbukger Tanne. (1817.)
Bon Friedrich Rückert. Gedichte. Erlangen, 18*0.
1. Bei Straßburg eine Tanne
Im Bergforst, alt und groß,
Genannt bei Jedermanne
Die große Tanne bloß,
Ein Rest aus jenen Tagen,
Als dort noch Deutschland lag,
Die ward nun abgeschlagen
An diesem Pfingstmontag.
2. Da kamen wie zum Feste
Zusammen fern und nah
In ganzen Scharen Gäste
Und sahn das Schauspiel da.
Sie jauchzeten mit Schalle,
Als nieder sank ihr Kranz,
Und hielten nach dem Falle
Im Forsthans einen Tanz.
3. Hat Einer wohl vernommen,
Was, als die Wurzel brach,
Im Herzen tief beklommen
Zuletzt die Tanne sprach?
Ein Widerhall vernahm es,
Der trug von Ziel zu Ziel
Es weiter, und so kam es
Hier in mein Saitenspiel.
4. So sprach die alte Tanne:
„Ich stehe nun der Zeit
Hier eine lange Spanne
In dieser Einsamkeit,
Von dieses Berges Gipfel
Mich streckend in die Luft;