Full text: Für Tertia (Abtheilung 1, [Schülerband])

Jacobs: Das Testament. 
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Sache auch im Auslande bekannt wird." Auf diese Aeußerung bat ich ihn um 
seine Mittheilung. Er erzählte nun Folgendes. 
„Unsre Stadt ist sehr alt, wie Sie wissen; sie hat alte Gebäude, alte Ge¬ 
brechen und alte Schulden; ihre Einkünfte werden durch die Zinsen und die 
dringendsten Bedürfnisse verzehrt. So ist es gekommen, daß man auch den 
größten Mängeln nicht abhelfen konnte. Und wie es geht — man ist an das 
Schlechte gewöhnt, klagt darüber und läßt es beim Alten. Nun lebte ein Ca¬ 
nonicus hier, ein kluger, aber verschlossener Mann, der wegen seiner Sitten und 
Kenntnisse in Ansehn stand. Die, welche ihn früher gekannt haben, erzählen, 
daß er ein anständiges Haus gemacht und oft Freunde bei sich bewirthet habe; 
auch habe er nie den Armen ohne Hülse gelassen, sondern sein Brot mit Witwen 
und Waisen getheilt. Mit einem Male — es mochte etwa um sein fünfzigstes 
Jahr sein — änderte er seine Lebensweise, verkaufte sein Haus und bezog eine 
kleine Wohnung in einem entlegenen Theile der Stadt. Hier lebte er in großer 
Eingezogenheit, lud Niemanden zu sich ein und verminderte seine Wohlthätigkeit. 
Diese Veränderung gab zu mancherlei Deutungen Veranlassung. Einige ver¬ 
mutheten, er habe großen Verlust an seinem Vermögen erlitten; Andere, er habe 
von Freunden, die er sehr verpflichtet, schnöden Undank erfahren; noch Andre, 
er habe Anfülle von Melancholie; und da sich nichts von dem allen bestätigte, 
so vereinigte man sich endlich darin, daß ihn das gewöhnliche Laster des Alters, 
der Geiz, heimgesucht habe. Hatte man ihn früher gerühmt, so tadelte man ihn 
jetzt desto lauter; und gerade die, welche ehedem Wohlthaten von ihm erhalten 
hatten, klagten am meisten über seinen Geiz als über ein Unrecht, das er ihnen 
und zugleich auch seinem Stande thue. Dieser Tadel war laut und öffentlich; er 
aber, als ob er nichts bemerkte, ging seines Weges und blieb bei der angenom¬ 
menen Weise bis an seinen Tod, der vor einigen Monaten erfolgt ist. Sobald 
sich die Nachricht von diesem Ereignisse verbreitete, fanden sich einige weitläufige 
Verwandte ein, die auf die Schätze des geizigen Vetters gerechnet hatten, ob sie 
gleich selbst nichts weniger als arm waren. Der Nachlaß an Hausgeräthe ließ 
nicht viel erwarten; aber man wunderte sich nicht, daß sich ein so geiziger Btann 
von Allem losgemacht hatte, was zur Bequemlichkeit gehörte; ja, die vermeint¬ 
lichen Erben mochten sich freuen, daß er thöricht genug' gewesen war für sie zu 
darben. Alle waren jetzt auf seinen letzten Willen gespannt. Wie hoch mag 
sich sein Nachlaß belaufen? Was mag er darüber verordnet haben? Wer wird 
Universalerbe sein? Mit diesen Fragen beschäftigte sich das Publikum bis zur 
Eröffnung des Testaments; und der Saal des Stadthauses war mit Menschen 
angefüllt, welche die Neugierde herbeigezogen hatte. Auch ich war unter diesen, 
und vielleicht war in der ganzen zahlreichen Versammlung kem Einziger — mich 
mit eingeschlossen — denn man muß sein Unrecht nicht verhehlen — der nicht 
die übelste Meinung von dem Verstorbenen mitbrachte. Wir wurden Alle be¬ 
schämt; aber, was das Beste war, die Verwandten ausgenommen war Niemand, 
der sich seiner Beschämung nicht recht herzlich gefreut Hütte. 
Das Testament fing nach der gewöhnlichen Eingangssormel mit der Er¬ 
klärung an, daß sich der Erblasser sein ganzes Leben hindurch bemüht habe, nach 
seinen Kräften die Pflichten eines guten Christen und Bürgers zu erfüllen.— 
Bei diesen Worten ging ein dumpfes Murmeln durch die Versammlung. Viele 
lachten; Einige husteten; Andere ließen etwas von schändlicher Heuchelei fallen. 
Der Lesende mußte einige Augenblicke inne halten, bis sich das Getös gelegt hatte. 
Dann hieß es weiter: er habe hierbei Jahre lang den gewöhnlichen Weg ver¬ 
folgt und so wie Andere Almosen gegeben u. s. w. Bald aber sei er zu der
	        
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