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119. Betrachtungen über ein Vogelnest.
in das sich eine Raupe einwebt, venn ihre Verwandlung anheben
soll. Ein Mensch kann kein Raupengespinst machen.
Ein Wort mehr! Alle Finkennester in der Welt sehen einander
gleich, vom ersten im Paradiese bis zum letzten in diesem Frühblinge.
Kein Fink hat's vom anderen gelernt. Jeder kann's selber. Die
Finkenmutter legt ibre Kunst schon mit in das Ei. PEbenso alle
Spinnengewebe, ein jedes nach seiner Art. Man weils es wohbl, aber
man denkt nicht daran. Noch ein Wort mehr! Das erste Nest eines
Finken ist ebenso künstlich wie sein letztes. Er lernt's nie besser.
Ja, manches Tierlein braucht sein Gespinst nur einmal in seinem Leben
und braucht nicht viel Zeit dazu. Es wäre übel daran, wenn es zuerst
eine ungeschickte Arbeit machen mülste und denken wollte , Pür düeses
Jahr ist's gut genug; über's Jahr mache ich's besser.“
Noch ein Wort! Jedes Vogelnest ist ganz vollkommen und ohne
Tadel, nicht zu grosls und nicht zu klein, nicht zu wenig daran und
nicht zu viel, dauerhaft für den Zweck, wozu es da ist. In der ganzen
Natur sind lauter Meisterstücke. Aber was der Mensch zur Geschick—
lichkeit bringen soll, das muls er mit vieler Zeit und Mühe lernen,
und bis er's kann, bekommt er manche Obrfeige vom Meister, der
selber Kein vollkommener ist. Denn kein menschliches Werk ist
vollkommen. Ist darum ein Mensch weniger als ein Fink? — Weit
gefehlt!
Denn erstlich: nicht der Vogel baut sein Nest, und nicht das
Rãupehen bettet sein Schlafbett, sondern der ewige Schöpfer thut's
durch seine unbegreifliche Allmacht und Weisheit, und der Vogel
muss nur das Schnäblein und die Fülslein und, so zu sagen, den
Namen dazu hergeben. Deswegen kann auch der Mensch kein Vogel-
nest und kein Spinnengewebe machen. Gottes Werke macht nie
mand nach.
Zweitens: wie der ewige Schöpfer an seinem Orte jedem Geschöpfe
seine Wohnung bereitet, aber nicht jede auf gleiche Art, dem einen
s0, dem anderen anders, wie es nach seinem Bedürfnisse und Zwecke
recht ist, also hat er etwas von dem göttlchen Verstande dem
Menschen in die Seele träufeln lassen, dals dieser nun nach seiner
eignen Uberlegung für mancherlei Zwecke bauen und hantieren kann,
wie er selbst meint, dals es recht sei. Der Mensch kann ein Schilder-
häuslein verfertigen, ein Waschhaus, eine Scheune, ein Wohnhaus,
einen Palast, eine Kirche, jedes nach seiner Weiseé; so aueh eine
Kirchenubr oder eine Orgel u. s. w.
Das alles macht er aber nicht wie das Tier. nur von blindem
Eifer bewegt, sondern mit wachem, besonnenem Geiste.
Drittens hat der ewige Schöpfer dem Menschen die Gnade ver—
liehen, dals er in allen seinen Geschäften von unten anfangen und