Full text: [Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband]] (Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband])

Goethe: Das Rheingau. 
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quellenden Röhrwasser; dieses ist der Marktbrunnen, von welchem der 
ans der Hügelstrecke gewonnene Wein seinen Namen hat. 
Die Mauer hört auf, die Hügel verflachen sich, ihre sanften Seiten 
und Rücken sind mit Weinstöcken überdrängt. Links Fruchtbäume. Nah 
ant Fluß Weidichte, die ihn verstecken. — 
Vor Geisenheim erstreckt sich ein flaches, niederes Erdreich bis an 
den Strom, der es wohl noch jetzt bei hohem Wasser überschwemmt; es 
dient zu Garten- und Kleebau. Die Aue im Fluß, das Städtchen am 
User ziehen sich schön gegeneinander; die Aussicht jenseits wird freier. 
Ein weites, hüglichtes Tal bewegt sich zwischen zwei ansteigenden Höhen 
gegen den Hunsrück zu. 
Wie man sich Rüdesheim nähert, wird die niedere Fläche links 
immer auffallender, und tnan faßt den Begriff, daß in der Urzeit, als 
das Gebirge bei Bingen noch verschlossen gewesen, das hier aufgehaltene, 
zurückgestauchte Wasser diese Niederung ausgeglichen und endlich, nach 
und nach ablaufend und fortströmend, das jetzige Rheinbett daneben 
gebildet habe. 
Und so gelangten wir in weniger als viertehalb Stunden nach 
Rüdesheim, wo uns der Gasthof zur Krone, unsern des Tores anrnutig 
gelegen, sogleich anlockte. 
Er ist an einen alten Turm angebaut und läßt aus den vorderen 
Fenstern rheinabwärts, aus der Rückseite rheinailfwärts blicken; doch 
suchten wir bald das Freie. Ein vorspringender Steinbau ist der Platz, 
wo man die Gegend am reinsten überschaut. Flußaufwärts sieht man 
von hier die bewachsenen Auen in ihrer ganzen perspektivischen Schönheit, 
unterwärts am gegenseitigen Ufer Bingen, weiter hinabwärts den Mäuse¬ 
turm im Flusse. 
Von Bingen heraufwärts. erstreckt sich, nahe am Strom, ein Hügel 
gegen das obere flache Laitd. Er läßt sich als Vorgebirg in den alten 
höheren Wassern denken. An seinem östlichen Ende sieht man eine Kapelle, 
dem heiligen Rochus gewidmet, welche soeben vom Kriegsverderben 
wiederhergestellt wird. An einer Seite stehen noch die Rüststangen; 
dessenungeachtet aber soll morgen das Fest gefeiert werden. Man glaubte, 
wir seien deshalb hergekommen, und verspricht uns viele Freude. 
Und so vernahmen mir denn, daß während der Kriegszeiten, zu 
großer Betrübnis der Gegend, dieses Gotteshaus entweiht und verwüstet 
worden. Zwar nicht gerade aus Willkür und Mutwillen, sondern weil 
hier ein vorteilhafter Posten die ganze Gegend überschaute und einen 
Teil derselben beherrschte. Und so war das Gebäude denn aller gottes¬ 
dienstlichen Erfordernisse, ja aller Zierden beraubt, durch Biwaks an¬ 
geschmaucht und verunreinigt, ja durch Pferdestallung geschändet. 
Deswegen aber sank der Glaube nicht an den Heiligen, welcher die 
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