Full text: [Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband]] (Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband])

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I. Epische Poesie. 
20 Zerbarst der Baum mit Hellem Jubelton; 
Begnadigt ward der dürre Stamm von Gott, 
Zu dienen zu dem Holz der Passion. 
Es zimmerte die blinde Welt aus ihm 
Das Kreuz und schlug ihr Heil daran mit Hohn. 
25 Da trug der Baum des Lebens blut'ge Frucht, 
Daß, wer sie koste, Leben sei sein Lohn. 
O Freimund, sieh! Der Baum des Lebens wächst, 
Ausbreitend sich, je mehr ihm Stürme drohn. 
Die ganze Welt ruh' unter seinem Schirm! 
30 Die halbe ruht in seinem Schatten schon. 
J5J. Die Straßburger Tanne. 
Friedrich Rückert Gesammelte poetische Werke. Frankfurt a. M. 
Von dieses Berges Gipfel 
Mich streckend in die Luft; 
Es webt um meine Wipfel 
Noch der Erinnerung Duft. 
5. Ich sah in alten Zeiten 
Die Kaiser und die Herrn 
Im Lande ziehn und reiten; 
Wie liegt das heut so fern! 
Da möcht' ich wohl mit Rauschen 
Sie grüßen in der Nacht 
Und mit den Winden tauschen 
Gespräch von deutscher Macht. 
6. Dann kam die Zeit der Irrung, 
Des Abfalls in das Land, 
Voll schmählicher Verwirrung, 
Da ich gar traurig stand; 
Es klirrten fremde Waffen, 
Es zuckte mir durchs Mark, 
Ich sah die Zeit erschlaffen 
Und blieb kaum selber stark. 
7. Den Himmel sah ich säumen 
Ein neues Morgenrot, 
Es scholl aus fernen Räumen 
Der Freiheit Aufgebot; 
Ich sah auf alten Bahnen 
Die neuen Deutschen gehn, 
Die lang entwöhnten Fahnen 
Vom Rheinstrom her mir wehn. 
' 
1. Bei Straßburg eine Tanne 
Im Bergforst, alt und groß, 
Genannt bei jedermanne 
Die große Tanne bloß, 
Ein Rest aus jenen Tagen, 
Als dort noch Deutschland lag, 
Die ward nun abgeschlagen 
An diesem Pfingstmontag. 
2. Da kamen, wie zum Feste, 
Zusammen fern und nah 
In ganzen Scharen Gäste 
Und sahn das Schauspiel da. 
Sie jauchzeten mit Schalle, 
Als niedersank ihr Kranz, 
Und hielten nach dem Falle 
Im Forsthaus einen Tanz. 
3. Hat einer wohl vernommen, 
Was, als die Wurzel brach, 
Im Herzen tief beklommen 
Zuletzt die Tanne sprach? 
Ein Widerhall vernahm es, 
Der trug von Ziel zu Ziel 
Es weiter, und so kam es 
Hier in mein Saitenspiel. 
4. So sprach die alte Tanne: 
„Ich stehe nun der Zeit 
Hier eine lange Spanne 
In dieser Einsamkeit,
	        
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