Full text: [Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband]] (Teil 6 = Obertertia - Untersekunda, [Schülerband])

Ludwig: Des Schieferdeckers Reich. — Liliencron: Zu spät. Die Attacke. 59 
Himmel und Erde. Die Krähen wundern sich eine ganze Woche lang; 
dann ist's, als hätten sie vor Jahren von einem seltsamen Vogel ge¬ 
träumt. Tief unten lärmt noch das Gewühl der Wanderer der Erde, 
hoch oben gehen noch die Wanderer des Himmels, die stillen Wolken, 
ihren großen Gang; aber niemand mehr umfliegt das steile Dach als 
der Dohlen krächzender Schwarm. 
J5. Au spät. Die Attacke. 
Detlev von Liliencron. Kriegsnovellen. Berlin und Leipzig. 
Der Oberbefehlshaber hatte um Mitternacht den um ihn versammelten 
Generalstabsoffizieren und von allen Seiten zum Befehlsempfang herbei¬ 
geeilten Adjutanten die Dispositionen zur Schlacht für den folgenden 
Tag selbst diktiert. Klar und ruhig sprach er jedes Wort, den Rücken 
gegen den Kamin kehrend und sich die Hände wärmend. Ohne ein 
einziges Mal zu stocken, vollendete er den Armeebefehl. 
Es war 3 Uhr morgens, als wir Adjutanten, uns die Hände zuni 
Abschied reichend, zu unseren Truppenteilen zurückritten. Ich konnte erst 
in drei bis vier Stunden bei meinem General sein. Es war eine na߬ 
kalte, windige Winternacht mit spärlichem Monde. Meine beiden mich 
begleitenden Husaren und ich kamen ohne Abenteuer im Quartier an. 
Ich traf den General „fix und fertig". Er hatte sich unausgekleidet 
aufs Bett gelegt und nur mit seinen Mänteln zudecken lassen. 
Als ich den Befehl zum Vormarsch verlesen hatte, erhielt ich von 
ihm die Weisung, ungesäumt nach dem rechten Flügel zu reiten, um 
dorthin eine wichtige Meldung zu bringen. Ich hätte gerne einen heißen 
Schluck gehabt, aber der Kaffee war noch nicht fertig; so nahm ich, was 
ich grade fand. Es wurde rasch eine Flasche Sekt geleert, die der 
General so liebenswürdig war mit mir zu teilen. Wir tranken ihn 
aus Tassen. Roher Schinken schmeckte nicht übel dazu. 
Dann ritt ich ab. Der Frühmorgen zeigte ein mürrisches Gesicht; 
nur der Wind hatte sich gelegt. Dumpf und still und grämlich lag's auf 
der Gegend. Die stark verregnete Karte in der Linken, hier und dort 
einen Kameraden grüßend, mir von Patrouillen Auskunft geben lassend, 
trabte ich meinem Ziele zu. 
Roch war's nicht voller Tag. Vom Feinde war nichts zu sehen. 
Bei den Doppelposten fielen einzelne Schüsse. Als ich in ein Tälchen 
einlenkte, entschwanden auch unsere Truppen. Das Tal engte sich, und 
bald bemerkte ich ein Brückchen, das sich über ein träges, schmutzig gelbes 
Wasser bog. Halt — was ist das? Da lag ein Mensch und sperrte 
mir den schmalen Übergang. Ich gab meinem Pferde die Sporen und 
war im Ru an seiner Seite. Es war ein toter Garde mobile, platt
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.